Soldaten tragen Schutzanzüge während der Ermittlungen zur Vergiftung des Ex-Doppelagent Skripal und dessen Tochter.
Interview

Giftanschlag in Großbritannien "Es nützt Putin und May gleichermaßen"

Stand: 16.03.2018 15:41 Uhr

Im Fall Skripal mit dem Finger auf Russland zu zeigen, sei falsch, meint der Linken-Politiker und Biowaffenexperte van Aken im Interview mit tagesschau.de. Die Belege seien "hauchdünn", auch andere Länder kämen infrage.

tagesschau.de: Die britische Premierministerin Theresa May ist sich ziemlich sicher, dass Russland hinter dem Giftanschlag auf den Ex-Doppelagenten Sergej Skripal steckt. Ist es so schwierig, Nowitschok herzustellen, dass es wirklich nur Russland gewesen sein kann?

Jan van Aken: Nein. Man weiß sehr wenig über die Produktionsverfahren von Nowitschok. Bei anderen Chemiewaffen weiß man da mehr. Aber es ist wohl - wie andere Nervengase - durchaus kompliziert herzustellen. Deswegen bin ich mir sicher, dass eine Geheimdienstoperation dahinter steckt. Aber zu sagen, weil Russland das vor 40 Jahren entwickelt hat, waren sie das heute, das ist albern. Es gibt mit Sicherheit einige andere Länder, die das genauso herstellen können.

Jan van Aken
Zur Person

Jan van Aken saß für die Linkspartei von 2009 bis 2017 im Deutschen Bundestag und ist seit 2016 Mitglied des Bundesvorstands der Partei. Der promovierte Biologe arbeitete zuvor viele Jahre als Greenpeaceaktivist und von 2004 bis 2006 als Biowaffeninspekteur für die UNO.

tagesschau.de: Welche Geheimdienste welcher Länder kämen da infrage?

Van Aken: Das ist totale Spekulation. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind möglicherweise Reste von diesem Nervengas in Teilrepubliken gelandet. Von Usbekistan weiß man das, da gab es wohl Testgelände für Nowitschok. Und möglicherweise gab es das noch in anderen Teilrepubliken, die heute eigene Länder sind.

Außerdem gehe ich sicher davon aus, dass die Amerikaner diesen Stoff herstellen können, weil sie damals geholfen hatten, das Programm in Usbekistan abzubauen. Und ich würde sagen, auch die Bundeswehr würde ihren Job nicht richtig machen, wenn sie selbst nicht zumindest einmal geringste Mengen von Nowitschok hergestellt hätten. Sie müssen ja wissen, wogegen sie sich verteidigen müssen.

"Frage nach Motiv hilft nicht weiter"

tagesschau.de: Es bleibt also die Frage, wer hat ein Interesse an diesem Anschlag?

Van Aken: Genau. Die Frage nach dem Motiv ist natürlich entscheidend, sie hilft uns hier aber auch nicht wirklich weiter. Denn man kann einerseits sagen: Für Putin ist das ein wunderbarer Coup, er bekommt nochmal kurz vor der Wahl Sanktionen, das steigert sein Wahlergebnis, weil es sein Land im Inneren zusammenschweißt.

Genauso kann man argumentieren, das war der britische Geheimdienst. Denn für May ist das ein absolutes Geschenk, sie ist innenpolitisch sehr geschwächt und plötzlich rückt das Land hinter ihr zusammen in diesem außenpolitischen Konflikt. Und sicher gibt es noch andere Länder, die ein Motiv haben könnten.

Der einzige Grund, warum ich überhaupt anfange, über Russland nachzudenken, ist natürlich, dass Skripal mal ein russischer Doppelagent gewesen ist. Andererseits wäre es aus Russlands Sicht sehr unklug, dann Nowitschok zu benutzen. Sie hätte ja auch eine andere Substanz, beispielsweise Sarin nehmen können, dann wäre der Verdacht nicht so direkt auf Russland gefallen.

"Beweisführung der Briten ist hauchdünn"

tagesschau.de: Wenn Mays Position so angreifbar ist, warum springen die NATO-Staaten, allen voran Frankreich, Deutschland und die USA, ihr dann zur Seite? Auch sie sagen ja, dass Russland "höchstwahrscheinlich" verantwortlich sei.

Van Aken: Das verstehe ich überhaupt nicht. Wir haben es hier mit zwei Mordversuchen zu tun an Skripal und seiner Tochter. Und da gilt wie bei allen anderen Straftaten erstmal doch eine Unschuldsvermutung. Und die Beweisführung, die die Briten bislang vorgelegt haben, ist so hauchdünn, dass man da nicht sofort mit dem Finger auf jemanden zeigen kann. Ich traue es den Russen ja zu. Ich traue es Putin zu, genau solche Aktionen zu machen. Ich traue es aber auch anderen Geheimdiensten zu.

Ich finde es ja in Ordnung, wenn Angela Merkel den Briten beiseite springt. Aber Russland vorschnell als Schuldigen auszumachen, dafür gibt es einfach keine Belege. Und es ist eigentlich auch nicht Merkels Stil.

tagesschau.de: Bislang scheint Großbritannien noch kein offizielles Verfahren bei der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OVCW) eingeleitet zu haben. Außenminister Boris Johnson sagt allerdings in der "FAZ", der OVCW solle die Möglichkeit gegeben werden, die Ergebnisse der britischen Ermittler zu überprüfen. Was bedeutet das?

Van Aken: Ich kann das auch schwer interpretieren. Ich finde, die wichtigste Forderung, auch von der Bundesregierung muss jetzt sein, dass alles an die OVCW abgegeben wird. Wofür haben wir eine Chemiewaffenkonvention, in der es genau für solche Anschuldigungen festgelegte Verfahren gibt? Und da gibt’s eben nicht so ein 24-Stunden-Ultimatum, wie Theresa May das gestellt hat. Sondern da sind zehn Tage zur Stellungnahme vorgesehen. Und diese zehn Tage muss man den Russen jetzt auch geben, um zu antworten.

Es gibt eine technische Gruppe der OVCW, die das Ganze untersuchen kann. Alle Proben, alle Erkenntnisse müssen an sie übergeben werden. Auch die Russen müssen dann Proben von ihrem Nowitschok zur Verfügung stellen, damit man beispielsweise chemische Fingerabdrücke vergleichen kann. Und wenn eines der beiden Länder da nicht kooperieren sollte, dann macht das deutlich, dass dieses Land derzeit nur ein politisches Interesse hat an dem Konflikt und kein Aufklärungsinteresse.

"Hinter den Kulissen ist man wohl schon weiter"

tagesschau.de: Glauben Sie, man wird den Fall restlos aufklären können? Es ist doch eher unwahrscheinlich, dass Russland Proben von Nowitschok herausrückt?

Van Aken: Ich sehe für die Aufklärung ganz gute Möglichkeiten, denn wir sind ja nicht nur auf die Analyse der Substanz angewiesen. Es sind ja ganz normale polizeiliche Ermittlungen. Scotland Yard arbeitet mit Sicherheit auf Hochtouren daran. Und wer weiß, welche Spuren die noch entdecken, von welchen Menschen möglicherweise Zugang zu dem Restaurant, das womöglich der Tatort war, zu dem Essen dort hatten. Da gibt es mit Sicherheit Videoaufnahmen.

Hinter den Kulissen ist man da bestimmt schon sehr viel weiter. Und ich könnte mir vorstellen, dass einzelne Täter identifiziert werden können. Ob die dann auch zur Verantwortung gezogen werden können, weil sie in ihrem Herkunftsland, möglicherweise geschützt werden, ist eine ganz andere Frage. Aber die allermeisten Morde und Mordversuche in dieser Welt werden ja aufgeklärt. Warum sollte es hier anders sein.

Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete NDR Info am 16. März 2018 um 17:15 Uhr.