Fragen und Antworten Sinn und Zweck des NATO-Raketenschilds
Auf ihrem Gipfel in Chicago haben die NATO-Bündnispartner den Start ihres umstrittenen Raketenabwehrsystems verkündet. Das System, das bis zum Jahr 2020 voll funktionsfähig sein soll, gilt als Belastungsprobe im Verhältnis zu Russland. Welche Ziele verfolgt die NATO mit dem Abwehrschild? Gegen wen richtet er sich? tagesschau.de gibt Antworten auf die wichtigsten Fragen.
Welchem Zweck soll der NATO-Raketenschild dienen?
Auf dem NATO-Gipfel in Lissabon einigten sich die Mitglieder der Allianz 2010 auf den Aufbau eines bündniseigenen Raketenabwehrsystems. Dieses soll Europa vor Angriffen mit Kurz- und Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von bis zu 3000 Kilometern schützen. Mit Hilfe von Radaranlagen und Abwehrraketen sollen feindliche Raketen bereits im Anflug zerstört werden.
Wie soll der künftige Raketenschild aussehen?
Der NATO geht es primär um die Vernetzung bestehender Abwehrsysteme der einzelnen Mitgliedstaaten. Deutschland will dafür zum Beispiel seine "Patriot"-Systeme zur Verfügung stellen. Zudem soll die Kommandozentrale in Deutschland, nämlich in Ramstein, angesiedelt werden. Frankreich hat Satelliten versprochen, die Niederlande Schiffe mit Radaranlagen. Die Hauptlast werden jedoch die US-Amerikaner tragen. Sie entsenden Schiffe mit Raketenabwehrsystemen ins Mittelmeer.
Gegen wen richtet sich die Raketenabwehr?
Die NATO warnt vor einer wachsenden Bedrohung durch Raketen. Über 30 Staaten seien demnach im Besitz von Raketentechnologien oder im Begriff, sich diese anzueignen. Die Raketen könnten sowohl mit konventionellen Sprengköpfen als auch mit Massenvernichtungswaffen bestückt werden. In diesem Zusammenhang wird vor allem der Iran immer wieder als Bedrohung genannt. Auf Druck der Türkei wurde 2010 jedoch auf dem NATO-Gipfel in Lissabon ein Verweis aus dem Abschlussdokument gestrichen, der den Iran explizit als potenziellen Angreifer nannte.
Warum steht Russland dem Abwehrschild so kritisch gegenüber?
Das NATO-Raketenabwehrsystem ersetzt die ursprünglichen Pläne der USA, ein Abwehrschild in Osteuropa zu etablieren. Vor allem die geplante Stationierung von Abwehrraketen in Polen und eines Langstreckenradars in Tschechien wurde von Russland als Bedrohung der eigenen Sicherheit gewertet.
Nachdem die neue US-Regierung von Präsident Barack Obama im September 2009 die Pläne der Bush-Administration verworfen hatte, wurde 2010 in puncto Raketenabwehr auf dem Lissaboner NATO-Gipfel eine Kooperation auf Augenhöhe mit Russland vereinbart. Seitdem scheint die Zusammenarbeit jedoch an Schwung verloren zu haben.
Russland fühlt sich provoziert, fürchtet unter anderem, dass durch das Abwehrsystem auch eigene Raketen abgefangen werden könnten. Die bisherige Kooperation mit der NATO scheint dem Land nicht weit genug zu gehen. "Wir werden gleichberechtigt beteiligt, oder wir werden uns nicht beteiligen", hatte es bereits in Lissabon von russischer Seite geheißen. Der russische Außenminister Sergej Lawrow klagte im Februar 2011, man könne den Eindruck gewinnen, dass die NATO immer schon zwei Schritte weiter sei als der NATO-Russland-Rat.
Vertreter des westlichen Bündnisses betonen zwar immer wieder, dass sich das Abwehrsystem nicht gegen Russland richte, die von der russischen Regierung geforderten rechtlich verbindlichen Garantien gelten jedoch gerade in den USA als umstritten.
Für Irritationen sorgten im Frühjahr 2012 Äußerungen des russischen Generalstabschefs Nikolaj Makarow. Er drohte mit einer Zerstörung der Anlagen. "Angesichts der destabilisierenden Natur des Raketenschilds (...) wird bei einer Zunahme der Spannungen eine Entscheidung über eine präventive Gewaltanwendung fallen", sagte Makarow laut der Nachrichtenagentur Reuters. Die russische Regierung drohte auch mit der Stationierung atomwaffenfähiger Raketen in Kaliningrad.
Wie sieht der Zeitplan für die kommenden Jahre aus?
Die NATO plant ihr Raketenabwehrschild schrittweise bis 2020 in Betrieb zu nehmen. Auf dem NATO-Gipfel am 20. und 21. Mai 2012 will die Allianz die "Anfangsbefähigung" ihrer Raketenabwehr verkünden. In dieser Phase soll es einen "begrenzten" Schutz Europas vor Raketenangriffen geben. Dazu wird ein Frühwarnradar im Südosten der Türkei in Betrieb genommen und mit Abfangraketen auf US-Kriegsschiffen im Mittelmeer vernetzt. Im nächsten Schritt soll das System um Abfangraketen in Rumänien und Frühwarngeräte auf niederländischen Fregatten ergänzt werden, auch die deutschen "Patriot"-Raketen sollen dann zur Verfügung stehen. 2018 sollen Abwehrraketen in Polen stationiert werden.
Zusammengestellt von Christine Richter für tagesschau.de