Amerikas Angst vor Unruhen Wall-Street-Kritiker kündigen heißen Herbst an
Spätestens seit der Festnahme von gut 700 Demonstranten am Wochenende in New York ist die Stimme der Unzufriedenen in den USA nicht mehr zu überhören. Was im Finanzdistrikt von Manhattan begann, hat nun Boston, Seattle, Chicago, San Francisco, Los Angeles und andere Städte erreicht. Immer mehr Menschen schließen sich der "Occupy Wall Street" ("Besetzt die Wall Street"-Bewegung) an und protestieren zu Tausenden gegen einen ganzen Katalog von Dingen, die ihrer Ansicht nach in den USA falsch laufen: das Wirtschafts- und Sozialsystem, die Justiz, die Klimapolitik - vor allem aber die Macht d
Von Ralph Sina, WDR-Hörfunkstudio Washington
"Wir werden ausverkauft." "Kapitalismus ist gleich organisiertes Verbrechen." "Wo bleibt mein Goldener Manager-Fallschirm?", riefen die Demonstranten im Bankenviertel von Boston. Die "Occupy Wall Street" ("Besetzt die Wall Street"-Bewegung) greift von New York aus auf andere US-Städte über und bestimmt immer stärker Amerikas Nachrichten: Ob in Chicago, Boston und Los Angeles - überall campieren mittlerweile hunderte von Demonstranten nahe der Rathäuser.
"Ihr amerikanischen Journalisten habt doch mit viel Sympathie über die Aufstände in den arabischen Ländern berichtet", sagt Van Jones von der Washingtoner Denkfabrik "Center for American Progress" in einem Interview mit dem Fernsehsender HBO. Genau von diesem arabischen Frühling habe sich die Anti-Wall-Street-Bewegung inspirieren lassen. Dem arabischen Frühling könnte ein amerikanischer Herbst folgen.
"So sieht Demokratie aus", rufen die Demonstranten höhnisch in New York, Boston, Chicago und Denver. Amerikas Zweiparteiensystem sei eine Farce. Nicht die Interessen des Volkes, sondern vor allem die der oberen Zehntausend würden durch das System abgebildet. Zumal die republikanische Partei mittlerweile nichts anderes sei als eine Geisel in den Händen der rechtskonservativen Tea-Party-Bewegung.
"Wir können es schaffen"
"Wir müssen unser Land zurückerobern", ruft ein Demonstrant in Boston. "Unser politisches System dient der Wirtschaft, repräsentiert vor allem die berühmten 'Ein Prozent', die immer reicher werden und grenzt die Stimme der Durchschnittsamerikaner aus."
Amerika dürfe nicht mehr ausschließlich von einer Handvoll super-reicher Firmenchefs, deren politischen Lobbyisten und den Banken der Wall Street regiert werden. Es sei ein Skandal, dass in den vergangenen zwei Jahren vor allem Amerikas radikale Rechte den Ton angegeben und unter dem Banner der so genannten "Tea Party" demonstrierend durch die Städte gezogen sei, sagt der prominente Sympathisant der Anti-Wall-Street-Bewegung, Van Jones: "Wo waren eigentlich wir, die schweigende Mehrheit, während die unser Land ruinierten?"
Es zeugt von wenig politischem Verstand, alle Hoffnung auf den Präsidenten zu richten, sagen die Initiatoren der "Besetzt die Wall Street"-Bewegung. Schließlich habe das Obama-Motto niemals gelautet: "Ja, er kann es schaffen. Sondern wir können es schaffen."
"Wir repräsentieren die 99 Prozent der Amerikaner, die zu den Verlieren der letzten Jahrzehnte zählen", reklamieren die Vorkämpfer der Anti-Wall-Street-Bewegung in TV-Debatten und Zeitungsinterviews. Sie profitieren von der Wut der Bevölkerung auf einen US-Kongress, der nur noch um sich selber kreist, und von der Enttäuschung über einen US-Präsidenten, der zwar Banken und Versicherungskonzerne gerettet hat, aber trotz milliardenschwerer Konjunkturpakete nicht verhindern konnte, dass Armut, Arbeitslosigkeit und der Werteverfall amerikanischer Häuser immer neue Rekordmarken erreichten.
Wachsende Kluft zwischen arm und reich
Die soziale Schere geht immer weiter auf, sagt Paul Taylor vom renommierten PEW-Forschungsinstitut: "Die hauchdünne Einkommenselite von einem Prozent der Amerikaner schöpft 34 Prozent des Nationaleinkommens ab."
Amerikas Auslandsgeheimdienst CIA muss in seinem so genannten Welt-Faktenbuch zugeben, dass die USA mittlerweile zu den Weltführern in puncto sozialer Ungleichheit zählt und in einer Liga mit Korruptions- und Ausbeutungsländern wie Uganda, Kamerun und der Elfenbeinküste spielt.
Selbst in der Hauptstadt Washington hat eines von drei Kindern mittlerweile nicht mehr genügend zu essen. Amerikas Mittel- und Unterschicht versorge ihre Kinder mittlerweile zwangsläufig schlechter als die Superreichen ihre Haustiere, schreibt der US-Ökonom Arthur M. Okun. Die Wut wächst: bei Schwarzen, Latinos und Amerikas weißer Mittelschicht. Der amerikanische Herbst könnte ein heißer Herbst werden.