Wie Betroffene mit Tschernobyl leben Nadeschda heißt Hoffnung
Nadeschda Lazko war elf, als die hochradioaktive Wolke über ihre Heimatstadt Gomel in Weißrussland zog. Gomel ist mit gut 500.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt in Weißrussland. Die Stadt wurde durch den Vorfall in Tschernobyl berühmt - traurigerweise: Einige Teile der Stadt waren so hoch verstrahlt wie die Gebiete rund um den Reaktor im 150 Kilometer entfernten Tschernobyl. In Gomel gibt es viele Fälle von Leukämie, Schilddrüsenkrebs und Behinderungen. Seit acht Jahren lebt Nadeschda nun in München - mit der Angst vor den Nachwirkungen.
Protokoll: Rebecca Beerheide
Mein Leben glich damals dem eines normalen Kindes: Ich spielte draußen, wurde dreckig und machte Quatsch. Was ich am 26. April 1986 gemacht habe, weiß ich nicht mehr. Aber irgendwann in den Tagen darauf merkten meine Schwester und ich aus den Reaktionen unserer Eltern, dass etwas ganz Schlimmes passiert sein musste. Sie konnten uns nicht erklären, was wirklich vorgefallen war, denn sie wussten selbst wenig. Man vertraute den Behörden nicht, es war ja Sowjetunion. Aber wir Kinder spürten die Bedrohung. In den nächsten Tagen haben wir schnell gelernt: Die Strahlung ist immer da, aber man kann sie nicht sehen, nicht riechen, nicht anfassen. Meine Eltern waren auch hilflos: Wir haben tagelang gehungert, weil meine verzweifelte Mutter nicht wusste, was sie uns zu Essen geben konnte. Denn dass die Lebensmittel belastet seien und die Strahlung tödlich sein könne, war das Einzige, was uns gesagt wurde. Wie tödlich - das haben wir erst später erfahren.
Das Alltagsleben war plötzlich von der unsichtbaren Gefahr bestimmt: Wir durften nicht mehr draußen spielen, bei Regen sollte man sich nicht im Freien aufhalten. Wir mussten uns die Schuhe abwischen und die Kleidung sofort waschen, wenn wir draußen gewesen waren. Wir gingen mit Mullmasken zur Schule.
Die Erdbeeren schmecken so wie immer
Doch nach drei, vier Wochen begannen die Menschen mit der Strahlung zu leben. Den Empfehlungen wurde nicht mehr gefolgt, es begann ein Verdrängungsspiel. Viele konnten und wollten nicht weg, es war ja ihre Heimat - das Wertvollste. Draußen war Sommer, die Sonne schien, ein Superwetter. Man sah die wunderschöne Natur, die blühte, die Erde, die roch, als ob nichts gewesen wäre. Irgendwann haben die Menschen gesagt, die Erdbeeren schmecken immer noch wie früher. Und sie taten so, als ob nichts passiert wäre - einfach um psychisch zu überleben.
Je größer der zeitliche Abstand wurde, desto leichter fiel das Spiel mit der Verdrängung - bis man merkte, dass der Feind doch viel gefährlicher war, als gedacht.
In den Jahren nach dem Unglück wurde ich oft untersucht, alle Schulklassen wurden ins Krankenhaus geschickt. Mit der Zeit merkten wir selbst, dass unsere Schilddrüsen sich verändert hatten, wir Kinder wurden aufgedunsener und langsamer. Krankheiten gehörten mehr und mehr zum alltäglichen Leben: Ein siebenjähriges Mädchen erzählte mir, sie habe "schon immer" Leukämie, die anderen im Krankenhaus seien gestorben. Das war erschreckend normal für sie - und für mich.
Die Angst vor Krankheiten hört nicht auf
Ich habe bis heute Glück gehabt. Doch jetzt, 20 Jahre danach, erkranken so viele der Jugendlichen und Kinder von damals. Schilddrüsenkrebs, Leukämie und Missbildungen bei Neugeborenen: Das nimmt solche Ausmaße an, dass es schwer wird, nicht daran zu denken.
Meine latente Angst vor den Krankheiten ist immer da, besonders wenn ich darüber nachdenke, eine eigene Familie zu gründen. Aber ich versuche, der Angst nicht zu viel Macht in meinem Bewusstsein zu geben - ohne sie gleichzeitig zu verdrängen. Mein Vorname ist ja "Nadeschda", das ist russisch und heißt Hoffnung. Daher fällt mir das vielleicht etwas leichter als anderen.
Nach meinem Universitätsabschluss in Gomel bin ich zum weiteren Studium nach München gegangen. Ich wollte die Welt sehen und auch zeitweise weg von Tschernobyl sein. Erst sollte es ein Jahr werden, doch nun lebe ich seit 1998 in München. Manchmal mache ich mir Sorgen um meine Familie. Sie leben noch dort und spielen weiter das Verdrängen.
Schreiben gegen das Vergessen
Inzwischen ist es hier in Deutschland ruhig um das Thema Tschernobyl geworden. Doch ich finde es wichtig, dass Menschen ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass die Folgen längst nicht vorbei ist, sondern sei ein Thema für Weißrussland, für die Ukraine, für Russland und auch für Deutschland bleiben. Deshalb schreibe ich über meine Erlebnisse. Die Geschichten erzählen von Ereignissen, von denen ich gehört habe. Zum Beispiel von einem alten Mann, der sein hochverstrahltes Dorf nicht verlassen wollte, obwohl es evakuiert wurde. Er konnte sein Dorf, sein Grundstück und seine Kuh nicht verlassen - es war sein zu Hause.
Das Schreiben ist keine Therapie für mich. Im Gegenteil: Ich bekomme dadurch oft nur noch mehr Alpträume. Aber ich arbeite damit gegen das Vergessen - obwohl ich täglich viel dafür tue, die Angst nicht mein Leben bestimmen zu lassen. Ob ich zurückkehren würde nach Gomel? Ja. Heimat ist schließlich Heimat.
Von Nadeschda Lazko erschien 2004 das Buch "SowjetoVita" im buchfein-Verlag. Darin beschreibt sie Geschichten und Ereignisse aus dem verstrahlten Gomel.