Fotos aus der Sperrzone Unterwegs im Unfassbaren
Rund um den Unfallort Tschernobyl hat die Natur übernommen, was die Menschen aufgeben mussten. So ist ein Reservat von trauriger Schönheit entstanden, das viele Fotografen inspiriert. Die Ukrainerin Elena Filatova erkundete es mit Kamera und Motorrad und beeindruckt durch ihre Reiseberichte Millionen Internetnutzer.
von Antje Matthies, tagesschau.de
Es ist gut möglich, dass die dramatischen Spätfolgen der Katastrophe von Tschernobyl für Außenstehende nirgends plastischer werden als in den evakuierten Dörfern und Städten rund um den Reaktor. Im Angesicht prallen Lebens unter lebensfeindlichsten Bedingungen, in der Zusammenschau einer wild wuchernden, traumhaft schönen Natur und der Fluchtspuren in leeren Häusern und Wohnungen. Wo Laien versuchen, diese verstörende Gleichzeitigkeit fotografisch einzufangen, ist oft ist der Geiger-Zähler im Bild zu sehen - dieses einzig vorhandene Hilfsmittel für die Sinne, deren Wahrnehmungen zu misstrauen hier unabdingbar ist. Es soll den Beweis erbringen für die Existenz des Unfassbaren, die radioaktive Verseuchung.
Dokumente der Katastrophe
Viele Menschen haben versucht, die trügerische Idylle der Landschaft und die lähmende Einsamkeit der Orte im Bild festzuhalten, darunter zahlreiche professionelle Fotografen. Einer von ihnen ist der in Kiew lebende Moldawier Igor Kostin. Von ihm stammen auch die wohl bekanntesten und bewegendsten Tschernobyl-Bilder. Sie zeigen die Aufräumarbeiten der ersten Stunden am brennenden Reaktor. Teils weisen sie durch die heftige Strahlung verursachte helle Schatten auf. Kostin war der einzige Fotograf, der das Geschehen unmittelbar nach dem Unfall festhielt, und er setzte dabei seine Gesundheit auf Spiel. Später dokumentierte er die Leiden der Tschernobyl-Opfer und reiste mehrfach in die Sperrzone. Den Verfall der verlassenen Gebiete und ihre morbide Einzigartigkeit zeigen aber auch andere Arbeiten, etwa die der Kanadier David McMillan und Robert Polidori. Letztere sind derzeit im Berliner Gropiusbau zu sehen.
Eine tollkühne Amazone?
Ein weitaus größeres Publikum als diese professionellen Fotografen erreichte jedoch eine Amateurin mit dem Thema - die Ukrainerin Elena Filatova. Gegen Ende des Jahres 2003 veröffentlichte sie ihre Aufnahmen aus der Sperrzone, der verlassenen Stadt Pripjat und den Dörfern in den verlassenen Gebieten im Internet. Es sind beeindruckende Bilder. Was sie von anderen Amateuraufnahmen der Region im Internet unterscheidet, ist jedoch vor allem, dass sie in persönliche Erzählungen eingebettet sind. Darin beschreibt Filatova in englischer Sprache ihre meist einsamen Motorradtouren durch das Niemandsland, bei denen die Fotos entstanden seien. Einige der Bilder zeigen im Hintergrund ihre Maschine, auf anderen ist sie auch selbst zu sehen.
„Mein Interesse an Tschernobyl entstand 1992, als ich zum ersten Mal durch die weißrussischen Dörfer nördlich des Reaktors fuhr“, erläutert die Autorin. Sie habe an diesen Orten eine eigentümliche Schönheit wahrgenommen, die sie beeindruckt habe. Und die Gefahr durch die Strahlung? Sie halte sich heute in Grenzen, wenn man sich auf den Straßen bewege, versichert Filatova. Dennoch: Dieses Gebiet per Motorrad zu durchkreuzen, erscheint vielen, vor allem weniger mit der Problematik vertrauten Lesern als tollkühnes, ja, selbstmörderisches Unterfangen. Und wohl auch deshalb erweisen sich die Motorradreiseberichte als spektakulärer Präsentationsrahmen für die Bilder.
Der Link zu Filatovas Homepage verbreitete sich schnell. Die Bilder wurden unter Motorrad-Fans ebenso diskutiert wie unter Hobbyfotografen. Eine Art Amazonenmythos entstand. Die Presse nahm das Thema auf, und die Seite verzeichnete bald immense Zugriffszahlen. Zugleich erörterten Netznutzer den Wahrheitsgehalt der Geschichten. Diskussionsteilnehmer berichteten in Newsgroups und Foren von Augenzeugen, die in der dunkelhaarigen Frau auf den Bildern eine Teilnehmerin einer Bustour in das Sperrgebiet wiedererkannt haben wollen, welche lediglich mit ihrem Helm posiert habe. Andere meinten zu wissen, dass die Milizen, die das Sperrgebiet kontrollieren, Motorräder niemals hineinlassen würden und die Seite schon deshalb als Hoax, als Internetschwindel, einzustufen sei. Dem Erfolg des Angebots taten die Debatten keinen Abbruch, eher bescherten sie ihm weitere Leser.
Erinnern im Netz
Die Autorin, die auch auf Nachfrage kaum mehr von sich preisgibt, als dass sie Anfang dreißig ist, reagiert unaufgeregt auf diese Einwände. „Sie treffen nicht den Punkt“, erklärt sie. „Meine Geschichten handeln nicht vom Motorradfahren, sie handeln von Tschernobyl.“ Die Katastrophe sei eine Warnung für die Menschheit, sagt Filatova. Es gelte, sie in Erinnerung zu halten. Deshalb habe sie mit ihrer Website auf Tschernobyl aufmerksam machen wollen. Sie hat ihr Ziel erreicht.