Die selbsternannten Wächter des Staates Das Militär als Hüter der Demokratie?
Die türkischen Generäle haben den Kurs von Regierungschef Erdogan lange toleriert. Die wirtschaftlichen Erfolge stimmten sie milde - trotz ihrer Skepsis gegenüber Erdogans islamischer AKP-Partei. Doch als Erdogan seinen Parteikollegen Gül zum Präsidenten wählen lassen wollte, stoppten ihn die selbst ernannten Wächter des säkularen Staates.
Die türkischen Generäle haben den Kurs von Regierungschef Erdogan lange toleriert. Die wirtschaftlichen Erfolge stimmten sie milde - trotz ihrer Skepsis gegenüber Erdogan und seiner islamischen AKP-Partei. Als jedoch Erdogan seinen Parteikollegen Gül zum Präsidenten wählen lassen wollte, stoppten ihn die selbst ernannten Wächter des säkularen Staates.
Von Britta Scholtys, tagesschau.de
Als Regierungschef Recep Tayyip Erdogan im Frühjahr Außenminister Abdullah Gül als einzigen Kandidaten für das Amt des Staatspräsidenten vorschlug, platzte den Generälen der Kragen. Sie drohten indirekt mit einem Putsch, sollte Erdogan an der Nominierung des AKP-Politikers festhalten. Die Militärs setzten sich durch: Güls Wahl scheiterte. Und die Generäle verhinderten damit, dass alle entscheidenden politischen Positionen mit Vertretern der islamisch-konservativen „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) besetzt sein würden. Der Grund: Die Streitkräfte sehen sich selbst als Hüter der Demokratie und des Kemalismus - also der seit Staatsgründung durch Kemal Pascha "Atatürk" geltenden Trennung von Staat und Religion.
Militär hält viertgrößte Finanzgruppe
Lange schaute der Generalstab zu, wie Erdogan die Posten in Verwaltung und Politik nach und nach mit Vertretern seiner islamisch geprägten AKP besetzte. Lange ließen sie ihn gewähren - auch als das Parlament im Rahmen der Bemühungen um einen EU-Beitritt der Türkei im Jahr 2003 die politische Macht des Militärs begrenzte. Die wirtschaftlichen Erfolge, die der Regierungschef mit seiner Reform- und Liberalisierungspolitik in den vergangenen Jahren vorweisen konnte, stimmten die Generäle offenbar milde, sagt Faruk Sen, Direktor des Essener Zentrums für Türkeiforschung, im Gespräch mit tagesschau.de.
Wirtschaftswachstum, Eindämmung der Inflation und wachsende Investitionen aus dem Ausland in die Türkei "kamen bei den Militärs gut an", so Sen. Denn davon profitierten letztlich auch sie: Seit 1961 sind die Militärs Eigner der Oyak-Holding. Sie ist heute die viertgrößte Finanzgruppe in der Türkei. Die Investitionen erstrecken sich von der Bau- und Automobilbranche über die Nahrungsmittelindustrie bis hin zum Finanzdienstleistungs- und Energiesektor. Das heißt: Das Militär ist "eindeutig in Schlüsselbranchen" aktiv, sagt der Türkeiexperte.
"Am liebsten in den Nordirak einmarschieren"
Dennoch hätten die Generäle Erdogans Kurs stets mit Argwohn beobachtet. Vor allem die "islamische Unterwanderung" der Verwaltung und Politik sowie die politische Öffnung bei der Kurdenfrage stünden bei ihnen in der Kritik, sagt Sen. Für das Militär sei es "nicht akzeptabel", dass die in der Türkei verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK - die auch von der EU als Terrororganisation gelistet ist - im Nordirak weiter agiere.
"Die Militärs wollen die PKKisten im Nordirak zum Stillstand bringen“, sagt der Experte. Aus Sicht des Militärs trage "allein die AKP mit ihrer Kurdenpolitik die Schuld" daran, dass der PKK-Terror vom Nordirak aus immer wieder über die Grenze in die Türkei getragen werde. Für die Militärs bedeute die Terrorbedrohung "einen Gesichtsverlust", so Sen. Und damit wollten die Generäle "ein für alle mal Schluss machen“. Im Klartext heißt das: Die Armee würde am liebsten in den Nordirak einmarschieren, um "eine Pufferzone von 10 bis 20 Kilometern vor der türkischen Grenze im nördlichen Irak" zu errichten, erklärt der Experte.
Seite an Seite mit den Kemalisten
Dennoch steht für den Türkeiforscher fest: "Das Herz der Militärs schlägt für die demokratischen Parteien" - allen voran die Kemalisten der "Republikanischen Volkspartei" (CHP). Die AKP dagegen werde vom Militär als "eine große Gefahr für die Türkei" gedeutet, die Gefahr, das säkulare Land in "eine sehr stark islamisch geprägte Türkei" zu verwandeln. Diese Einschätzung teilt im übrigen Türkeiexperte Sen. Er bewertet die AKP als eine "absolut islamische Partei". Parteichef Erdogan ist für ihn "ein Wolf im Schafspelz“.