Interview

Interview mit EU-Parlamentspräsident Pöttering "Polen könnte die EU in eine Krise stürzen"

Stand: 19.06.2007 22:23 Uhr

Beim geplanten Abstimmungsverfahren im EU-Ministerrat stellt sich Polen stur - und könnte damit die EU in eine Krise stürzen. Doch Polen täte gut daran, das zu akzeptieren, was die Vorgängerregierung selbst unterschreiben hat, sagt EU-Parlamentspräsident Hans-Gert Pöttering.

tagesschau.de: Von Anfang an wurden hohe Erwartung an die deutsche Ratspräsidentschaft und den kommenden EU-Gipfel in Brüssel gestellt: Ratspräsidentin Angela Merkel soll die auf Eis gelegte Verfassung retten, oder zumindest deren Kern in einen neuen Vertrag gießen. Das scheint nun schwieriger als je zuvor. Welche realistischen Ergebnisse erwarten Sie vom Gipfel?

Hans-Gert Pöttering: Ich erwarte, dass eine Regierungskonferenz beschlossen wird, die im nächsten halben Jahr einen fertigen Vertrag formuliert. In vielen Sachfragen werden wir auf dem Gipfel schon eine Einigung hinbekommen. Schwierig wird es in der Frage der so genannten doppelten Mehrheit bei Abstimmungen im Ministerrat. Die polnische Regierung akzeptiert dieses im Verfassungsvertrag vorgesehen Verfahren nicht. Das muss dann vermutlich in der Regierungskonferenz entschieden werden.

Warum will Polen die Quadratwurzel?

Derzeit hat Polen fast ebenso viele EU-Stimmrechte wie Deutschland, allerdings nur halb so viele Bürger - rund 40 Millionen Polen stehen gut 80 Millionen Deutsche gegenüber. In Prozent ausgedrückt hat Deutschland 8,4 Prozent der EU-Stimmen, während es Polen auf 7,8 Prozent bringt. Das hatte Warschau im Dezember 2000 beim EU-Gipfel in Nizza durchgesetzt. Mit der neuen Verfassung würde Polen zwar etwas besser gestellt als bisher (8,0 statt 7,8 Prozent der Stimmrechte). Berlin aber würde seinen Einfluss gegenüber Warschau mehr als verdoppeln (mit dann 17,2 Prozent der Stimmrechte). Eine Berechnung nach Quadratwurzel, wie Polen sie fordert, würde Deutschland einen Stimmenanteil von neun, Polen von sechs Prozent bringen. Warschau hätte dann zwar etwas weniger Gewicht als derzeit, aber gegenüber Deutschland deutlich mehr als in der Verfassung geplant.

tagesschau.de: Sie waren vor zwei Wochen in Polen und haben mit dem Präsidenten Lech Kaczysnki gesprochen. Warum stellt sich die Regierung dort quer?

Pöttering: Die polnische Regierung ist der Meinung, dass Polen im Vergleich zur gegenwärtigen Rechtslage beim System der doppelten Mehrheit beim Stimmenverhältnis nicht gut wegkommt. Deswegen will man ein Verfahren vorschlagen, dass die polnische Situation verbessert. Polen steht damit gegen die Position des Europäischen Parlaments, der EU-Kommission und aller anderen Regierungen - vielleicht mit Ausnahme Tschechiens, wenn man unterstellt, Tschechien unterstütze Polen, wie teilweise behauptet wird. Polen ist also in dieser Frage isoliert. Sollte das Land bei seiner Position bleiben, könnte es die Europäische Union in eine tiefe Krise führen. Dabei ist die Bevölkerung in Polen gegenüber Europa überaus positiv eingestellt.

tagesschau.de: Was kann man Polen anbieten, damit es sich zu einem Kompromiss bereit zeigt?

Pöttering: Es ist jetzt nicht der Zeitpunkt, Polen etwas anzubieten, sondern wir müssen Polen auffordern, das zu akzeptieren, was die frühere polnische Regierung im Verfassungsvertrag selbst unterschrieben hat.

tagesschau.de: Entscheidet der Verlauf des Gipfels darüber, ob die jetzt zu Ende gehende deutsche Ratspräsidentschaft im Nachhinein als Erfolg oder Misserfolg gesehen wird? Wenn es zu keiner Einigung in Brüssel kommt, steht Bundeskanzlerin Merkel sehr schlecht dar.

Pöttering: Das Entscheidende ist, dass die Bundeskanzlerin mit unglaublichem Einsatz alles versucht hat, um zu einer Lösung zu kommen. Hoffen wir noch auf eine Lösung. Sollte die Frage des Stimmenverhältnisses im Ministerrat schließlich in einer Regierungskonferenz gelöst werden müssen und nicht schon jetzt Donnerstag und Freitag entschieden werden, wäre das zwar ein Schönheitsfehler. Aber es würde die Leistung von Angela Merkel nicht in Frage stellen. Wir haben am 8. und 9. März einen sehr erfolgreichen Gipfel gehabt mit den Entscheidungen zur Reduzierung des Schadstoffausstoßes in Hinblick auf den dramatischen Klimawandel. Auch der Gipfel am 25. März in Berlin zum Jubiläum der Römischen Verträge war sehr erfolgreich. Aber hoffen wir, dass beim Treffen der Staats- und Regierungschefs am Donnerstag und Freitag der deutschen Ratspräsidentschaft jetzt noch das Tüpfelchen auf dem i aufgesetzt wird – mit einer guten Entscheidung, die die Substanz des Verfassungsvertrags erhält.

tagesschau.de: Die Substanz soll erhalten bleiben. Als Kompromissangebot an Skeptiker, die einen Über-Staat Europa fürchten, könnte aber die Erwähnung der europäischen Hymne und der Europaflagge im Vertrag geopfert werden. Entfernt man sich mit dem Verzicht auf diese Symbole nicht gerade von den Menschen, nachdem man in der „Berliner Erklärung“ versucht hatte, einen gemeinsamen Geist Europas neu zu beleben?

Pöttering: Ja, es wäre sehr bedauernswert, wenn das ein Zugeständnis sein müsste, um bei der Sache selber, der Wahrung der Substanz des Vertrages, zu einer Lösung zu kommen. Aber wenn die Hymne und die Flagge tatsächlich nicht im Vertrag erwähnt würden, dann soll man die Flagge umso mehr wehen lassen und die Hymne umso mehr spielen, denn sie bleiben natürlich unsere Hymne und unsere Flagge.

Das Interview führte Fiete Stegers, tagesschau.de