Interview

EU-Parlamentarier Schulz im Interview ''Frau Merkel fehlt die Idee für Europa''

Stand: 03.09.2007 12:04 Uhr

Vor einem Jahr sagten Franzosen und Niederländer in Volksabstimmungen "Nein“ zum Europäischen Verfassungsvertrag. Seitdem befindet sich die Europäische Union in der Krise. In ihrer Regierungserklärung zu Europa forderte Bundeskanzlerin Angela Merkel jüngst eine neue Idee für die EU. Dem widerspricht der Fraktionsführer der Sozialisten im Europäischen Parlament, Martin Schulz, im Interview mit tagesschau.de: Nicht Europa fehlten die Ideen, sondern den Staats- und Regierungschefs, so auch Angela Merkel.

tagesschau.de: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in ihrer Regierungserklärung zu Europa klare Grenzen für die EU gefordert. Wo sollten diese Ihrer Meinung nach liegen?

Schulz: Bevor man über die geographischen Grenzen der EU diskutiert, muss man über die Grenzen der Aufnahmefähigkeit der EU und über die Beitrittsfähigkeit der neuen Staaten reden. Die jetzigen Verträge schaffen nicht die Grundlage, die das geeinte Europa braucht. Deshalb sollte es ja die Verfassung geben.

tagesschau.de: Nun fordern aber viele Bürger klare geographische Grenzen der EU. Was antworten Sie darauf?

Schulz: Ich glaube, dass die Europäische Union nach Bulgarien und Rumänien auf absehbare Zeit keine weiteren Mitglieder mehr aufnehmen kann.

tagesschau.de: Auch nicht die Türkei?

Schulz: Das ist eine Frage, die frühestens in zehn bis 15 Jahren akut werden wird. Das eigentliche Problem sind die Nachfolgestaaten des früheren Jugoslawien. Der Balkan braucht die Beitrittsperspektive zur EU. Die Region ist geprägt durch eine lange Geschichte nationalistischer, ethnischer und religiöser Konflikte. Die Idee Europas ist die Idee der Überwindung von Konflikten durch transnationale Lösungen. Deshalb wäre der Beitritt dieser Balkanstaaten zur Euopäischen Union die große Chance, den Balkan zu befrieden. Aber die Balkanstaaten müssen im Inneren ihrer Gesellschaften die Grundvoraussetzungen dafür schaffen, und die EU muss die nötigen Reformen durchführen, um sie aufnehmen zu können. Wenn wir das nicht schaffen – die den Transformationsprozess und wir den Verfassungsprozess –, versagen beide Seiten.

Politik erschöpft sich in der Alltagsmühle

tagesschau.de: Sie haben eben von der Grundidee Europas gesprochen, der Überwindung nationaler Konflikte durch übernationale Institutionen. Das hat in der Folge des Zweiten Weltkrieges für Europa sehr gut funktioniert. Nun hat Bundeskanzlerin Merkel in ihrer Regierungserklärung eine neue Idee für Europa gefordert. Ist denn Ihrer Meinung nach eine ähnlich tragfähige neue Idee in Sicht?

Schulz: Das war für mich der fahrlässigere Teil in den Äußerungen von Frau Merkel. Dieser Gründungsmythos der Europäischen Union verblasst zwar, weil diejenigen, die den Zweiten Weltkrieg noch miterlebt haben, immer weniger werden. Aber: Die Bedrohung, der wir heute begegnen müssen, sind zunehmende kulturelle und religiöse Konflikte. Das heißt, mehr denn je ist die multinationale, multiethnische und multikulturelle Identität Europas ein Modell zur Friedenssicherung in der Welt.

Und das kann man auch jungen Europäern bestimmt sehr gut erklären – wenn man es denn tut. Stattdessen stellt sich Frau Merkel in den Bundestag und sagt: Uns fehlt die Idee. Ihr fehlt die Idee.

tagesschau.de: Sehen Sie in Deutschland einen Politiker oder eine Politikerin, die so etwas wie eine Vision für Europa hat?

Schulz: Nein, es gibt bedauerlicherweise wenige. Aber das ist kein deutsches Problem. Mein Eindruck ist, dass sich die Politik im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert derart in der Alltagsmühle erschöpft, dass die Kraft für Visionen fehlt. Der letzte wirklich große Visionär und Politiker, den wir in Deutschland hatten, war Helmut Kohl. Der hatte eine Vision von Europa.

"Die Denkpause wird verlängert werden"

tagesschau.de: Im Juni treffen sich die europäischen Staats- und Regierungschefs, um wieder über die Verfassung zu reden. Aber selbst EU-Kommissionspräsident Manuel Barroso sagte jüngst, die Verfassung sei tot. Gibt es noch eine Rettung für dieses Vertragswerk?

Martin Schulz: Für die Verfassung gibt es noch eine Rettung. Wenn Barroso noch häufiger solche Bemerkungen macht, wird es für ihn schwieriger als für die Verfassung.

tagesschau.de: Aber ist es denn realistisch, dass die Verfassung noch in Kraft tritt, nachdem die Referenden in Frankreich und den Niederlanden gescheitert sind?

Schulz: Im Moment ratifizieren gerade zwei Staaten die Verfassung: Estland hat es gerade getan, und der finnische Präsident Matti Vanhanen hat es angekündigt. Und wer sagt uns denn, dass nicht noch weitere Staaten ratifizieren? Selbst die Iren haben angekündigt, über den Ratifizierungsprozess nachdenken zu wollen. Da bröckelt die Front.

tagesschau.de: Also Ihr Rezept heißt: Abwarten? Sie halten nichts von Ideen, wonach die Länder, die ein schnelleres Integrationstempo wollen, den Weg ohne die anderen gehen?

Schulz: Nein, auf keinen Fall. Die Verfassungsgegner glauben, dass sich die Menschen damit abfinden, dass nun alles still zu stehen hat, weil Frankreich "Nein" gesagt hat. Die Spanier zum Beispiel haben bei einem Referendum mit 72 Prozent "Ja“ gesagt. Die Frage ist nicht beantwortet, warum ein französisches "Nein“ mehr wert sein soll, als ein spanisches "Ja“.

tagesschau.de: Was erwarten Sie vom EU-Gipfel im Juni?

Schulz: Ich denke, dass es zu einer Verlängerung der Denkpause kommen wird – gerade weil die Finnen angekündigt haben zu ratifizieren. Das war ein kluger Schachzug des finnischen Präsidenten Vanhanen, der ja im kommenden Halbjahr auch die EU-Ratspräsidentschaft innehaben wird.

Das Interview führte Sabine Klein, tagesschau.de