Dutroux-Prozess "Es ist keine Einzelkriminalität"
Der Journalist und Autor Dirk Schümer hat in seinem Buch "Die Kinderfänger. Ein belgisches Drama von europäischer Dimension" den Fall des mutmaßlichen Kinderschänders und Mörders Marc Dutroux dokumentiert. Aber nicht nur das: Er setzt sich darin auch mit der internationalen Dimension von Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornografie auseinander - und sucht die Hintergründe in der Gesellschaft.
tagesschau.de sprach mit ihm über die Entstehung seines Buches 1996/97 und den Dutroux-Prozess, der am 1. März beginnt:
tagesschau.de: Was hat Sie damals zu den Recherchen in Belgien bewogen?
Schümer: Ich reiste zufälligerweise in ganz anderen Dingen genau in den Orten umher, wo Dutroux` Taten aufgedeckt wurden, die Polizei die Verliese und die Kinderleichen fand. Im ganzen Land ging Trauer in Wut über. Auf der Straße kamen mir die Demonstranten mit hochgehaltenen Kinderbildern entgegen. Das hatte so eine Mischung aus Mittelalter und Revolution. Und da habe ich gedacht, da muss man doch darüber schreiben.
tagesschau.de: Bei vielen Themen ist der Umfang der Recherchen abschätzbar. Welche Erfahrungen machten Sie speziell bei diesem Thema?
Schümer: Es wurde immer größer und gewaltiger. Zunächst war es eine Dunkelzone, in die man vorsichtig einen Fuß hineinsetzte und einige Gerüchte hörte: Kinderhandel, Videos, Auftragsmord. Und dann rückte dieser Dutroux ins Licht der Öffentlichkeit als einer, der - wie in schlimmsten Märchen - Kinder von der Straße fing, bei sich in Verliesen einsperrte und wer weiß was mit ihnen machte. Eine riesige Empörung folgte, weil er von der Polizei wieder freigelassen worden war und offenbar auch als ihr Informant und Mitarbeiter galt, so dass die größten Verschwörungstheorien in die Welt gesetzt wurden, die Verbindungen bis ins Königshaus belegen wollten.
tagesschau.de: Während der mehrjährigen Ermittlungen im Fall Dutroux gab es eine Panne nach der anderen. Akten wurden angeblich gefälscht, Ermittler mit fadenscheinigen Begründungen vom Fall abgezogen, Zeugen verschwanden auf dubiose Weise oder kamen zu Tode. Welche Erfahrungen machten Sie während Ihrer Recherchen mit den belgischen Behörden?
Schümer: Ich hatte mich davon zurückgezogen, diesen investigativen Journalismus zu betreiben. Denn ich bin kein Verbrechensjournalist, der solche Dinge aufklärt.
Vielmehr habe ich versucht, die Fakten in den Gesamtzustand des Landes einzubauen. Ich schilderte die Demonstrationen und befragte die Priester, die die Kinder begraben hatten. Ich wollte zeigen, was gesellschaftlich im Argen lag, begab mich also auf die Metaebene. Und es war natürlich interessant, die Großdemonstration und die wochenlangen Debatten zu verfolgen. Denn genau genommen ist die Regierung dadurch gestürzt worden. Bei der Wahl eineinhalb Jahre später musste der Ministerpräsident wegen der Justizmängel zurücktreten.
Es hat wirklich einen Ruck in Belgien gegeben. Es ist weit über den Ort Charleroi hinaus klar geworden, dass eine Justiz an den Grundlagen unserer Gesellschaft rüttelt, wenn sie ausschließlich in den Händen von Politikern liegt, die sich Pöstchen und Einfluss zuschanzen.
tagesschau.de: Bei der Analyse über den belgischen Staat haben Sie in Ihrem Buch vor ähnlichen Verhältnissen wie auf dem Balkan gewarnt. Zwar nicht im kriegerischen Ausmaß, aber dennoch mit der Möglichkeit eines Auseinanderbrechens des Landes. Als Gründe führten Sie die sprachlichen Barrieren und deren Folgen für Politik und Gesellschaft an. Nun sagten Sie bereits, dass sich in Belgien einiges getan hat. Ist die beschriebene Gefahr gebannt?
Schümer: Das System hat reagiert. Das Auseinanderbrechen wäre wahrscheinlich unausweichlich gewesen, wenn in den Polizei- und Justizbehörden keine Reform stattgefunden hätte. Vorher herrschte durch gegenseitige Pöstchenwirtschaft und Aufteilung des Landes in Franzosen und Flamen ein Zustand der Anarchie. Das ist, als wenn Sie in Bayern einen Supermarkt ausrauben und in Baden-Württemberg, zehn Kilometer hinter der Grenze, nicht mehr von der Polizei verfolgt werden, weil diese erst die Akten übersetzen muss und aus Prinzip nicht mit den bayerischen Kollegen zusammenarbeitet.
Es gab in Belgien etliche miteinander konkurrierende Polizeidienste, deren Zuständigkeit nicht geregelt war. Jetzt gibt es wie in Deutschland eine Hierarchie: Bundesrecht geht vor Landesrecht und so weiter.
tagesschau.de: Nun hat es die belgische Justiz tatsächlich geschafft, einen Prozesstermin im Fall Dutroux festzulegen. Den 1. März 2004. Welche Erwartungen haben Sie an das Gerichtsverfahren?
Schümer: Die interessante politische Frage ist für mich, war er alleine oder hat er mit diesem Tod der Kinder Geschäfte gemacht? Hat er sie gefilmt, hat er sie an irgendein Netzwerk weitergegeben? Dass jemand, der offiziell Sozialhilfeempfänger ist, offenbar aber Millionenbeträge besitzt und sich riesige Grundstück, Bagger und Reisen finanzieren kann, am Ende ein Einzeltäter, ein kleiner Perverser sein soll, der seinen bösen Trieben folgt - das ist für mich ein zu großer Widerspruch. Vieles liegt noch in den Akten. Wenn da neue Fakten entstehen, dann könnte der Prozess eine richtige Revolution sein, eine Bombe im Umgang mit diesen Kindesentführungen, Kindermorden und Kinderschändereien.
tagesschau.de: Wie werten Sie das Problem Kindesmissbrauch und wie soll damit umgegangen werden?
Schümer: Ich plädiere dafür, diese Sache als ein gesellschaftliches Grundübel zu sehen. Es ist nicht einfach eine Einzelkriminalität. Als ich das Buch geschrieben habe, erhielt ich Briefe von Leuten, die Kinderkliniken leiten und Traumata behandeln. Die berichteten: Was wir von Kindern zu hören bekommen, wenn wir psychologisch in ihre Tiefe forschen, und das miteinander vergleichen, sind wir völlig fest davon überzeugt, dass es diese Art von kommerzieller, sexueller Ausbeutung bis hin zu Folter und Mord von Kindern gibt.
Also frage ich mich dann als Laie - ich bin ja da kein Profi, sondern nur Journalist - warum in alles in der Welt kann so etwas nicht vor Gericht kommen? Es sind doch keine Kavaliersdelikte, wo man immer den Mantel des Schweigens darüber deckt. Ist es wirklich unmöglich, diese Dinge zurückzuverfolgen?
Sich auf ein vermeintliches Monstrum zu konzentrieren, ist sehr bequem. Aber man muss sich zwingen, dem ins Auge zu schauen, dass es einen ganz bestimmten kleinen, aber zu allem entschlossenen Prozentsatz von Menschen gibt, die sich gegenseitig helfen, ihren perversen und mörderischen Gelüsten nachzugehen. Daran wird auch der Dutroux-Prozess nichts ändern. Aber noch habe ich die Hoffnung, das solche Taten endlich auch mal bewiesen und in gerichtlichen Zusammenhängen an die Öffentlichkeit kommen. Der Fall Dutroux wäre dafür ein Anlass. Wir können nur hoffen und abwarten.
Das Interview führte Jana Seyther.
"Die Kinderfänger. Ein belgisches Drama von europäischer Dimension"
Goldmann Verlag 1999, ISBN: 3442755492
(vergriffen, nur noch gebraucht erhältlich)