Interview zu Tschetschenien "Der Krieg wird zu einem kaukasischen Problem"
Für den russischen Präsidenten Putin stand ein Nachgeben im Geiseldrama von Beslan nach Ansicht des Russland-Experten Rahr nicht zur Debatte. Moskau hätte seine Position im Süden des Landes weiter geschwächt. Der Tschetschenien-Konflikt, so Rahr gegenüber tagesschau.de, wird zu einem Problem des ganzen Kaukasus.
tagesschau.de: 1995 ist der damalige russische Präsident Boris Jelzin auf Forderungen von tschetschenischen Geiselnehmern eingegangen und hat ihnen freies Geleit gewährt. Stand eine solche Lösung für Präsident Putin ernsthaft zur Debatte?
Alexander Rahr: Nein. Putin ist nicht Jelzin. Durch ein Nachgeben würde seine Position in der russischen Politik und Gesellschaft gefährden. Er zieht sein Programm einer Ordnungspolitik durch. Er will nicht nur als der starke Mann agieren, sondern auch als der Politiker in die Geschichte eingehen, der Russland nach der Zeit der Jelzinschen Wirren wieder gefestigt hat.
tagesschau.de: Von diesem Ziel scheint Putin in Tschetschenien aber weit entfernt.
Rahr: Bei einem Nachgeben hätte Putin sein Gesicht verloren, Russland hätte sich von seiner Rolle als Friedensmacht im Kaukasus verabschieden können. Auch der Weltmachtstatus, den Russland anstrebt, wäre in Gefahr geraten. Und die Terroristen hätten sich zu weiteren Angriffen gegen Russland ermutigt gefühlt. Die Gewaltspirale scheint hier nicht zu stoppen zu sein.
tagesschau.de: Aber ist der Weg der Unnachgiebigkeit gerade international für Putin nicht ebenso riskant?
Rahr: Natürlich kann er für Putin Folgen auf dem internationalem Parkett haben. Es ist ja schon der zweite Vorfall innerhalb von zwei Jahren. Zugleich wird man aber wohl Verständnis dafür aufbringen, wenn auch vielleicht nicht offen. Als Präsident Jelzin 1995 Terroristen abziehen ließ, wurde nach wenigen Monaten erneut ein Krankenhaus und ein Dorf überfallen. Hinzu kommt: Wir haben es nicht nur mit tschetschenischen Separatisten zu tun, sondern mit einer weitverzweigten Organisation. Die Geiselnehmer sind offenbar nicht nur Tschetschenen, sondern auch Inguschen, Ossetier, Georgier. Das ist ein explosives Gemisch, eine islamische Terror-Organisation, die um so verwunderlicher ist, weil ihre Forderungen nicht ganz klar sind.
tagesschau.de: Das ist eine neue Konstellation, da ja die Ossetier und Georgier überwiegend Christen sind.
Rahr: Das ist in der Tat ein überraschendes Phänomen. Putin spricht ja immer wieder davon, dass es sich um kriminelle Banden handelt, denen es weniger um politische Ziele, als um Raubzüge geht. Vor zwei Wochen hat eine Gruppe eine Polizeistation in Inguschetien besetzt, Dutzende Polizisten kaltblütig ermordet und dabei Waffen erbeutet, mit denen sie wieder nach Tschetschenien abgezogen sind. Ähnliche Überfälle gab es auch in Dagestan.
tagesschau.de: Finden sich diese Personen unter einem anti-russischen Aspekt zusammen, oder muss man hier den Blick auf Al Kaida richten?
Rahr: Das tschetschenische Problem scheint ein kaukasisches Problem zu werden. Zu den Kämpfern gehören ja nicht nur Tschetschenen. Hinzu kommt: Unter den Feldkommandeuren sind auch Jordanier und Araber. Welche Ziele sie verfolgen, ist nicht genau auszumachen. Sicher aber geht es nicht mehr nur um die Unabhängigkeit von Tschetschenien. Ich glaube, dass diese Kräfte danach streben, im Kaukasus ein islamisches Kalifat zu errichten. Vor dieser Herausforderung steht Putin. Deshalb genießt er auch eine gewisse Solidarität bei Bundeskanzler Schröder und dem französischen Präsidenten Chirac, die aus ihren Geheimdienstquellen auch solche Informationen besitzen.
tagesschau.de: Die Bevölkerung hat bislang Putins harten Kurs unterstützt. Könnte diese Stimmung jetzt umschlagen?
Rahr: Wer nicht direkt betroffen ist, wird sicher eine härtere Gangart gegen Tschetschenien fordern. Das Ziel der Terroristen war ja, den Terror auch nach Moskau hineinzutragen, dort so viele Menschen wie möglich zu töten, vor allem junge Leute, um sich zu rächen, um zu zeigen, dass man auch im Herzen des Landes zuschlagen kann. Noch ist es den Terroristen nicht gelungen, einen Spalt zwischen das Volk und Putin zu treiben.
tagesschau.de: Welche Alternativen hat Putin in Tschetschenien?
Rahr: Niemand kann heute sagen, mit welchen "weicheren" Mitteln in Tschetschenien vorgegangen werden könnte. Die russische Armee kontrolliert Teile Tschetscheniens schon lange nicht mehr. Statt dessen gibt es dort den Clan des unlängst ermordeten tschetschenischen Präsidenten Kadyrow. Jetzt regiert faktisch sein Sohn die Republik, und er möchte sein Land auch nicht mit den Rebellen teilen.
tagesschau.de: Eine politische Lösung ist also nicht in Sicht?
Rahr: Putin hat eine Taktik angewandt, die zunächst sehr erfolgreich zu sein schien. Er hat den Konflikt "tschetschenisiert". Er hat den Kadyrow-Clan im Norden des Landes stark gemacht, ohne die Republik in die Unabhängigkeit zu entlassen. Putin hat darauf gehofft, dass von Norden aus die Schluchten und Berge im Süden des Landes unter Kontrolle gebracht werden können. Das ist nicht geschehen. Heute verläuft die Front in Tschetschenien nicht zwischen den russischen Truppen und den Rebellen im Süden. Tschetschenien ist aus meiner Sicht heute zweigeteilt. Die Trennungslinie verläuft zwischen denen, die sich mit Russland arrangieren wollen und denjenigen, die bis zum Tode oder bis zur Unabhängigkeit gegen Russland kämpfen wollen. Dieses Gemisch führt dazu, dass eine politische Lösung noch weiter entfernt ist als noch vor vier Jahren.
Alexander Rahr ist leitet bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik das "Körberzentrum Russland/GUS". Die Fragen stellte Eckart Aretz, tagesschau.de