Kinderärztin im Jemen "Viele werden völlig alleingelassen"
Die Kinderärztin Werner hat sieben Monate im Jemen gearbeitet, um Kindern zu helfen - mitten in einer humanitären Katastrophe. Sie berichtet von Versorgungsmangel, Corona-Angst und dem Schmerz, nicht helfen zu können.
tagesschau.de: Sie waren sieben Monate als Kinderärztin im Jemen, in Gebieten, die von Huthis kontrolliert werden. Wie war da die Versorgungslage?
Annette Werner: Man bekommt dort relativ viele Lebensmittel, auf jeden Fall mehr, als ich mir vor meinem Einsatz vorgestellt habe. Die Versorgungslage an sich ist gar nicht so schlecht. Auf den lokalen Märkten wird genügend angeboten, aber man muss Geld haben, um die Sachen auch kaufen zu können. Die Preise sind enorm gestiegen und viele Menschen können sich das nicht mehr leisten.
tagesschau.de: Wie überleben die Menschen?
Werner: Die Familien stützen sich, so gut sie können. Wer noch etwas hat, teilt es mit anderen. Aber viele haben einfach absolut nichts mehr. Ich habe das ganz oft erlebt, dass wir Kinder für eine notwendige Operation oder eine onkologische Therapie in die Hauptstadt hätten verlegen müssen, aber die Eltern hatten dafür einfach nicht die Mittel.
Dr. Annette Werner ist Kinderärztin an der Uniklinik Mainz. Sieben Monate arbeitete sie für die Organisation Ärzte ohne Grenzen in von Huthi-Rebellen kontrollierten Gebieten im Nordjemen - zunächst in der Provinz Amran, später in der nördlichen Provinz Sa’ada. Zur Bürgerkriegsfront waren es von dort nur etwa 30 Kilometer Luftlinie.
Engpässe bei Medikamenten
tagesschau.de: Wie ist die Versorgung mit Medikamenten?
Werner: In den Apotheken werden viele Medikamente angeboten, aber die die Sicherheit dieser Medikamente ist fraglich und die Wirkstoffrate unklar. Wir sind von Ärzte ohne Grenzen versorgt worden mit Medikamenten, die meist aus dem Ausland kamen. Wir hatten also validierte Quellen und konnten uns auf die Wirksamkeit der Medikamente verlassen.
Es kam auch für uns immer wieder zu Engpässen, etwa wenn der Luftraum gesperrt war. Vor allem bei Laborausrüstung und -zubehör gab es große Nachschubprobleme wegen der kurzen Haltbarkeit und der langen Importverfahren. Manchmal konnten wir wochenlang keine Elektrolyte oder Entzündungswerte bestimmen. Doch diese Diagnostik ist für die medizinische Behandlung oft von essentieller Bedeutung.
tagesschau.de: Für wie viele Patienten waren Sie zuständig?
Werner: Im allgemeinen Krankenhaus in Khamer hatte die Kinderklinik 55 Betten. Gemeinsam mit einem jemenitischen Kinderarzt war ich für alle zuständig. Hinzu kamen die Betreuung der Kindernotfälle in der Notaufnahme und die Erstversorgung der Früh- und Neugeborenen in der Gynäkologie. Im Sommer hatten wir nach starken Regenfällen und Überschwemmungen bis zu 80 Patienten auf der Station. Teilweise mussten sich Patienten ein Bett teilen. Wir hatten Matratzen auf dem Boden und ein Zelt auf dem Dach, wo es nachts zu kalt und tags zu heiß war.
tagesschau.de: In welchem Zustand waren die Patienten?
Werner: Es gibt wahnsinnig viel Unterernährung. Wir hatten Mangelernährungsstationen für Kinder, die immer überbelegt waren. Viele Kinder sind schwerstmangelernährt, ihr Gesundheitszustand war oft katastrophal. Ich hatte ein vierjähriges Mädchen, das wog sieben Kilo. Dieses Gewicht hat in Deutschland ein Säugling mit einem halben Jahr. Es gibt auch schwerstmangelernährte Säuglinge. Die Mütter selbst sind schon massiv unterernährt und haben nicht genug Muttermilch; Geld für künstliche Nahrung ist nicht da. Viele füttern den Säuglingen ein Gemisch aus Wasser und Mehl, damit sie nicht verhungerten. Die Kinder kriegen dann oft Durchfall und aufgrund von verschmutztem Wasser Infektionen. Einige Kinder sind deswegen gestorben.
Cholera-Schluckimpfung in Sanaa: In dem Bürgerkriegsland gibt es kein strukturiertes Impfprogramm, sagt Annette Werner.
"Kein durchdachtes Impfschema"
tagesschau.de: Wie sieht es bei Impfungen aus, finden die statt?
Werner: Ich habe dort meinen ersten Fall von Diphtherie gesehen. Das war ziemlich schockierend. Es handelte sich um ein neunjähriges Mädchen, das daran gestorben ist. Es gibt Impfprogramme und Impfzentren der staatlichen Gesundheitsbehörde. Etwa die Hälfte unserer kleinen Patienten hatte irgendwelche Impfungen bekommen. Das entsprach keinem durchdachten Impfschema. Es hatte etwas Zufälliges. Tatsächlich sieht man die ganze Palette von Kinderkrankheiten wie Keuchhusten oder Masern, aber auch Tetanusinfektionen, die durch Impfungen verhindert werden könnten.
tagesschau.de: Spielt Corona eine Rolle?
Werner: Ja, aber es ist sehr schwer, das Ausmaß einzuschätzen. Die Angst vor dem Virus war anfangs riesig, die Vorbereitungen durch die staatlichen Behörden waren unzureichend. Die Corona-Lage einzuschätzen ist unmöglich, weil es wenige Tests gab und offenbar viele Menschen zuhause gestorben sind. Viele Menschen haben Angst, ins Krankenhaus zu gehen, wenn sie Symptome haben. Und andere schaffen es aufgrund körperlicher Schwäche oder mangels Transportmöglichkeiten einfach nicht. Die Huthis haben keinen vollständigen Überblick über die Zahlen von Corona-Infizierten oder Verstorbenen gegeben. Die offiziellen Zahlen sind zu niedrig. Allein wir haben Hunderte Patienten mit Covid-19-Symptomen in unserem Behandlungszentrum in Sanaa behandelt.
Die Doppelrolle Saudi-Arabiens
tagesschau.de: Wer hilft den Menschen im Jemen, die Huthis oder die jemenitische Regierung mit ihren Verbündeten?
Werner: Ehrlich gesagt, vor allem internationale Organisationen. Die Lehrer und die Ärzte werden nur unregelmäßig bezahlt, viele haben schon seit Monaten kein Gehalt mehr bekommen. Sie arbeiten irgendwie noch. Die Arbeitslosigkeit ist exorbitant hoch. Wegen Corona wurden alle Schulen geschlossen. Viele Menschen werden völlig allein gelassen.
Und dann haben wir die absurde Situation, dass die Saudis Hilfe für den Jemen leisten und andererseits Kriegspartei sind. In dem Ort Haidan nahe der Front wurde ein Wohnhaus von der von Saudi-Arabien geführten Allianz bombardiert. Es gab sechs Tote und viele Verletzte. Ein Mann mit fast vollständig amputiertem Bein wurde bei uns erstversorgt und dann in ein Krankenhaus in Saada gebracht, das von Saudi-Arabien finanziert wird, wo er dann auch kostenlos behandelt wurde.
tagesschau.de: Sie waren nahe der Front und haben die Folgen des Krieges im Krankenhaus miterlebt.
Werner: Ja, und zwar direkte und indirekte Folgen des Krieges, von zivilen Opfern von Luftangriffen über die zunehmende Armut bis hin zur katastrophalen Gesundheitslage. Die zivile Infrastruktur wurde in vielen Teilen des Landes zerstört. Es gibt auch indirekte Folgen dieser Luftangriffe. Spät in der Nacht kam zu mir eine Familie mit einem schwerkranken Kind - viel zu spät. Sie haben mir erklärt, dass sie wegen anhaltender Luftangriffe drei Tage nicht aus ihrem Dorf rauskamen. Das macht es für die Zivilbevölkerung extrem schwierig.
tagesschau.de: Welche Rolle spielen die Vereinten Nationen und das Welternährungsprogramm - welche Hilfe können sie liefern?
Werner: Über die Vereinten Nationen kann ich nichts sagen, aber mit Ärzte ohne Grenzen habe ich gesehen, wie schwierig es ist, im Jemen zu arbeiten. Die Behörden im Norden kontrollieren alles sehr stark. Ärzte ohne Grenzen hat einen guten Stand, weil sie neutral und unparteiisch sind. Und trotzdem gibt es sehr viele Hindernisse. Jeder, der in den Jemen kommen will, muss mindestens drei Monate auf ein Visum warten. Medikamente und dringend benötigte medizinische Ausrüstung lagern ewig lange in Dschibuti und werden nicht im Land verteilt.
Überleben in einer humanitären Katastrophe
tagesschau.de: Sie haben tief in menschliche Abgründe geblickt. Was macht das mit Ihnen?
Werner: Die Rückkehr war nicht ganz einfach. Man fragt sich nach so einer Zeit schon, wo und wie man leben möchte. Wie kann man einfach so weitermachen, wenn man in einem Land gelebt hat, in dem viele Menschen täglich um das nackte Überleben kämpfen müssen? Es verändert einen. Dankbarkeit und Demut werden da ganz groß. Jetzt denke ich, ich bin so froh, hier an der Uniklinik arbeiten zu können.
Und ich bin so dankbar, für all die Möglichkeiten, die ich hier als Ärztin habe, auch schwierige Fälle behandeln und schwerkranke Kinder retten zu können. Das hat mich im Jemen wirklich manchmal an meine Grenzen gebracht, dass in den sieben Monaten weit über 50 Kinder unter unseren Händen gestorben sind. Es war sehr hart, wenn man weiß, was man jetzt bräuchte, um Leben zu retten - und es ist einfach nicht da. Ich kann mein Bestes geben, aber mir fehlen die Mittel und das Kind stirbt letztendlich. Das waren sehr schwere Momente.
Das Gespräch führte Reinhard Baumgarten, SWR.