Bürger lehnen EU-Reformvertrag ab Irland in Erklärungsnot
Nach dem Nein zum EU-Reformvertrag hat in Irland die Suche nach den Gründen begonnen. An der Unzufriedenheit mit der Wirtschaftslage und die Bürgerferne der EU habe es gelegen, meint die irische Presse. Nun muss Irland klären, wie es weiter mit dem Reformvertrag verfahren will.
Von Ralf Borchard, BR-Hörfunkstudio London
Jubel der Gegner des Lissabon-Vertrags bei der Bekanntgabe des Ergebnisses in Dublin. Die Nein-Seite konnte 110.000 Stimmen mehr in die Waagschale werfen als die Ja-Seite. Für den irischen Regierungschef Brian Cowen, erst seit einem Monat im Amt, ist es auch eine persönliche Niederlage.
Er hatte wie alle großen politischen Parteien in Irland für ein Ja geworben und muss nun beim kommenden EU-Gipfel seinen EU-Amtskollegen das Nein erklären: "Das Ergebnis schafft erhebliche Unsicherheit und eine schwierige Situation. Es gibt keine schnelle Lösung. Wir brauchen eine Pause, um zu verstehen, was passiert ist und warum, um uns dann in Ruhe zu beraten - zu Hause und mit unseren europäischen Partnern."
Quittung für eine bürgerferne EU
Die Analyse des Neins in der irischen Presse lautet: Die Regierung hat zu spät für den Lissabon-Vertrag gekämpft. Sie konnte die Vorteile des Vertrags nicht überzeugend vermitteln. Die Mehrheit der Iren fühlte sich schlecht informiert. Das Nein drückt eine allgemeine Unzufriedenheit mit der Wirtschaftslage aus und Ängste mit Blick auf eine immer größere, kompliziertere und als bürgerfern empfundene Europäische Union.
"Europa muss berechenbar sein"
Der irische Geschäftsmann Declan Ganley, eine zentrale Figur der Nein-Kampagne, sagt, das Votum der Iren sei nicht gegen Europa insgesamt gerichtet, sondern konkret gegen den Lissabon-Vertrag. Die Regierungschefs müssten zurück an den Verhandlungstisch: "Dieses Nein ist keine Europa-skeptische Botschaft, es ist eine pro-europäische Botschaft. Aber Europa muss berechenbar sein, demokratisch, und in seinem Handeln für die Bürger verständlich und das ist es nicht."
Der auf dem Gipfeltreffen in Lissabon im Dezember 2007 unterzeichnete Vertrag zur Reform der Europäischen Union soll Anfang 2009 in Kraft treten. Bis dahin muss er von allen 27 Mitgliedstaaten der EU ratifiziert werden. Je nach nationalem Recht gibt es dafür unterschiedliche Verfahren. Bereits ratifiziert haben den Vertrag: Ungarn, Slowenien, Malta, Rumänien, Frankreich, Bulgarien, Polen, die Slowakei, Portugal, Dänemark, Österreich, Lettland, Litauen, Luxemburg, Finnland, Estland und Griechenland. In Deutschland wurde der Vertrag trotz der Zustimmung von Bundestag und Bundesrat noch nicht ratifiziert. Das Bundesverfassungsgericht muss nach Klagen entscheiden, ob Bundespräsident Horst Köhler das Zustimmungsgesetz unterzeichnen darf. In den Niederlanden gab es am 5. Juni die Annahme im Unterhaus des Parlaments. Die für den Abschluss der Ratifizierung noch fehlende Zustimmung des Senats gilt als Formsache. In Tschechien hat die zweite Parlamentskammer ihre Abstimmung am 24. April verschoben. Dort soll erst das Verfassungsgericht über die Vereinbarkeit mit tschechischem Recht entscheiden.
Auch in Großbritannien, Schweden, Belgien, Spanien, Italien und Zypern stehen die Zustimmungen noch aus. Nach dem Nein der irischen Volksabstimmung ist aber vieles offen.
Brüsseler Eliten müssen auf Europa hören
In Großbritannien, wo die Labour-Regierung ein Referendum vermieden hat, fühlt sich der konservative Oppositionsführer David Cameron durch das Nein der Iren bestätigt: "Die Eliten in Brüssel müssen auf die Bürger in Europa hören, die nicht endlos Machtbefugnisse von den Nationalstaaten an Brüssel abgeben wollen. Sie wollen diese endlosen Verfassungen und Verträge nicht."
Cameron forderte Premierminister Gordon Brown auf, die britische Ratifizierung des Lissabon-Vertrags sofort zu stoppen. Doch Außenminister David Miliband versichert, die Londoner Ratifizierung werde zu Ende gebracht: "Ich glaube, es ist richtig, dass wir in unserem Ablauf fortfahren und das irische Angebot annehmen, über die nächsten Schritte nach vorn zu diskutieren."
Zweites Referendum in Irland?
Ein denkbares Szenario nach dem Nein der Iren lautet: Alle anderen EU-Länder ratifizieren den Lissabon-Vertrag. Irland erhält einige Zusatzklauseln und stimmt dann erneut ab. Einmal hat das schon funktioniert: Auch zum Vertrag von Nizza sagten die Iren zunächst Nein und dann im zweiten Anlauf Ja. Doch diesmal liegen die Hürden für ein zweites Referendum in Irland deutlich höher.