Expertin zu den Protesten im Iran "Der Machtkampf in Teheran tobt hinter den Kulissen"
Im Iran tobt der Machtkampf nicht nur auf der Straße, sondern "hinter den Kulissen". Die Politikwissenschaftlerin Akbari betonte gegenüber tagesschau.de, die Proteste würden von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren getragen. Daher könnte eine Reform des iranischen Systems möglich sein.
tagesschau.de: Wie nehmen Sie die Proteste im Iran wahr?
Semiramis Akbari: Besonders der gewaltsame Umgang des Staates mit den friedlichen Protestierenden macht mich sehr traurig und wütend, die Bilder gehen mir auch als Wissenschaftlerin sehr nahe.
tagesschau.de: Immer wieder wird der Vorwurf erhoben, die Proteste seien vom Westen gesteuert. Wie bewerten Sie das?
Akbari: An dem Vorwurf von staatlicher Seite im Iran ist nichts dran. Zumal diejenigen, die im Iran protestieren, nicht nur zivilgesellschaftliche Akteure sind, sondern auch Repräsentanten des politischen Systems - also auch die pragmatischen Konservativen, beispielsweise der Parlamentspräsident oder der Bürgermeister Teherans. Diese kommen eigentlich aus dem Kernzirkel der Konservativen. Das ist ein Indiz dafür, dass die Proteste nicht vom Westen gesteuert werden, sondern aus dem Inneren des Staates kommen.
Semiramis Akbari ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung. Dort ist sie Ansprechpartnerin für Schia und innerreligiöse Konflikte im Iran und Irak, Demokratisierung im Iran sowie Frauen im Iran und Afghanistan.
tagesschau.de: Was verbindet diese sehr unterschiedlichen Menschen im Protest?
Akbari: Sowohl die staatlichen als auch die zivilgesellschaftlichen Akteure in der Protestbewegung lehnen Gewalt ab. Das ist das Verbindende. Beide Akteurstypen wollen einen friedlichen Wandel und demokratische Wahlen. Was sie unterscheidet ist, dass die nichtstaatlichen Kräfte viel progressiver sind als die pragmatischen Konservativen. Die Zivilgesellschaft will eine breitere Öffnung und weit mehr Demokratie.
tagesschau.de: Inwieweit sind die Proteste auch wirtschaftlich motiviert?
Akbari: Wirtschaftliche Probleme spielen seit 30 Jahren eine Rolle im Iran. Die Proteste jetzt sind eher politisch motiviert. Die Menschen haben gedacht: Wir haben unsere Stimme, wir können einen der vorgesetzten Kandidaten auswählen, um mehr Freiräume für das Privatleben zu bekommen. Doch nicht einmal das hat der Iran den Menschen gegönnt. Wirtschaftliche Faktoren spielen immer eine Rolle, aber die politische Partizipation ist im Moment ausschlaggebend.
tagesschau.de: Welche Rolle spielt Ex-Präsident Haschemi Rafsandschani?
Akbari: Einerseits ist er in dem System eingebettet. Er ist Vorsitzender des Expertenrates und er ist Vorsitzender des Schlichtungsrates, der zwischen Parlament und Wächterrat vermitteln soll. Andererseits spielt er als Persönlichkeit eine wichtige Rolle. Allerdings ist er sehr umstritten - im konservativen und auch im Lager der Reformer. Durch die Unrechtserfahrungen, die er in den vergangenen vier Jahren gemacht hat, hat er sich zwar nicht zum Reformer entwickelt, aber zumindest besetzt er auch Reformthemen. Und er unterstützt die staatlichen Reformer. Er verfolgt dabei auch persönliche Interessen, denn die Ultrakonservativen hatten eine Kampagne gegen Rafsandschani gestartet. Wir erleben somit einen Machtkampf zwischen den Ultrakonservativen und der Familie Rafsandschani.
tagesschau.de: Ist Rafsandschani zuletzt geschwächt worden?
Akbari: Rafsandschani hat sich im Laufe der Jahre immer wieder als sehr beharrlich, aber auch als sehr flexibel und lernfähig bewiesen. Er geht zu den richtigen Zeitpunkten neuen Allianzen ein. Hinter den Kulissen wird ein Machtkampf ausgetragen - und Rafsandschani wird weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Zurzeit meldet er sich gar nicht zu Wort, er hat sich zurückgezogen - was wohl auch eine kluge Strategie ist. Der Machtkampf tobt nicht nur zwischen den drei unterlegenen Präsidentschaftskandidaten und Ahmadinedschad, sondern er richtet sich gegen die klerikalen Schlüsselakteure, die die Revolution getragen haben.
tagesschau.de: Welchen Einfluss haben westliche Staaten?
Akbari: Je mehr sich der Westen einschaltet, desto öfter wird der Vorwurf erhoben, die Reformer seien Handlager des Westens. Gleichzeitig ist es richtig, dass der Westen die Gewalt verurteilt. Sinnvoll ist eine Doppelstrategie: Sich nicht in den Machtkampf einmischen, denn das ist eine innere Angelegenheit, gleichzeitig aber die Ereignisse genau beobachten und die Gewalt verurteilen.
tagesschau.de: Welche Lösung könnte es für den Machtkampf geben?
Akbari: Das politische System erscheint sehr widersprüchlich. Der Iran ist verfassungsrechtlich gesehen kein demokratischer, aber auch kein autoritärer Staat. Es gibt parallele republikanische und nicht-republikanische Elemente. Durch die institutionelle Logik der islamischen Republik gibt es möglicherweise doch noch Möglichkeiten, die Ultrakonservativen in die Schranken zu weisen. Das brutale Vorgehen gegen die Protestbewegung könnte ein Indiz dafür sein, dass sie sich vor den Reformern fürchten. Wenn der Wächterrat den Schlichtungsrat einschalten würde, könnte eine innere Balance gelingen. Das System könnte funktionieren.
Das Interview führte Patrick Gensing, tagesschau.de