Interview zu den Anschlägen in Indien "Pakistans Geheimdienst ist außer Kontrolle"
Hinter den Anschlägen von Mumbai stecken nach Einschätzung des Indien-Experten Voll auch Teile des pakistanischen Geheimdienstes. Sie wollen sowohl der indischen als auch der eigenen Regierung schaden. Im Interview mit tagesschau.de erklärt Klaus Voll auch, warum die indischen Sicherheitskräfte versagt haben.
tagesschau.de: Zu der Anschlagsserie hat sich die bislang unbekannte indische Islamisten-Gruppe Deccan Mudschaheddin bekannt. Wer gehört zu dieser Gruppe? Tatsächlich vor allem Inder?
Klaus Voll: Seit den Anschlägen in Bombay hört man das immer wieder. Sicherlich hatten die Terroristen indische Helfer. Es deutet aber auch viel darauf hin, dass die Aktion von außen kam. So ist sicher, dass die Attentäter per Boot zu den Anschlagszielen gefahren sind - angeblich abgesetzt von einem pakistanischen Schiff. Die offiziellen Untersuchungen laufen darauf hinaus, dass die Aktion vom ISI, dem pakistanischen Geheimdienst, unterstützt wurde. Es wird hier allerdings viel gemutmaßt. So soll einer der Terroristen Panjabi gesprochen haben, eine in Pakistan weit verbreitete Sprache.
tagesschau.de: Wieso sollte der pakistanische Geheimdienst die Terroristen unterstützen?
Voll: Vermutlich ist er mit der Indien-Politik des amtierenden pakistanischen Präsidenten nicht zufrieden. Die ist ja von einer positiveren Haltung gegenüber Indien geprägt. Das ist zumindest die Meinung von K. Subrahmanyam, einem prominenten Kenner der indischen Sicherheitspolitik. Für ihn zählt jetzt vor allem eines: Indien darf jetzt nicht in die Falle tappen und mit Spannungen in Richtung Pakistan auf diese Anschläge reagieren.
tagesschau.de: Der pakistanische Geheimdienst arbeitet hier also gegen den eigenen Präsidenten?
Voll: Vermutlich nicht der gesamte Geheimdienst. Aber manche Gruppen innerhalb des Dienstes ganz bestimmt. Dieser Geheimdienst ist ja nicht unter Kontrolle zu bekommen. Und diese Gruppen wollen mit diesen spektakulären Anschlägen einen Ausgleich zwischen Pakistan und Indien verhindern und den gezielten Angriff auf den indischen Staat weiter fortzusetzen. Vermutlich haben diese Teile eine Verbindung zu Al Kaida.
"Es fehlt eine Bundespolizei"
tagesschau.de: Woran liegt es, dass die indischen Geheimdienste offensichtlich von den Anschlägen überrascht wurden?
Voll: Das ist das alte Dilemma in Indien. Seit Jahren haben die indischen Behörden auf diesem Gebiet offensichtlich geschlafen und bis heute aus den bisherigen Versäumnissen keinerlei Konsequenzen gezogen. Indien leidet in Sicherheitsfragen unter einem Strukturproblem: Die Sicherheitskräfte unterstehen nämlich den Bundesländern - es gibt also keine Bundesbehörde oder Bundespolizei. Und die Länderbehörden sind offensichtlich nicht gut organisiert, teilweise sogar massiv unterbesetzt. Deshalb sind vermutlich auch Warnungen im Vorfeld der Anschläge, die es angeblich gegeben hat, nicht konsequent verfolgt worden. Dabei gibt es mittlerweile ein landesweites Terroristen-Netz. Das lässt sich auch an den Anschlägen der letzten beiden Jahre erkennen.
Hinzu kommt, dass der indische Innenminister politisch schon lange unter Beschuss steht. Ihm wird Inkompetenz vorgeworfen. Da er aber von der Präsidentin der regierenden indischen Kongresspartei, Sonja Gandhi, protegiert wird, ist er immer noch im Amt.
Kein Umdenken zu erwarten
tagesschau.de: Wird sich nach diesen verheerenden Anschlägen in diesen Fragen nun etwas ändern?
Voll: Ich bin da eher skeptisch. In den unterschiedlichen Bundesländern Indiens regieren ja auch unterschiedliche Parteien. Und da wird zum Teil ganz offen zugegeben, dass aus politischen Gründen manche Spuren und Verdächtigungen gar nicht weiterverfolgt werden. Das sind Dinge, die sich nur aus dem innerindischen Herrschaftssystem erklären lassen.
tagesschau.de: Und diese katastrophalen Anschläge werden an dieser Haltung nichts ändern?
Voll: Es gibt zwar schon ein Interesse der demokratisch legitimierten Staatsklasse, wie ich das nenne, am Ende zusammenzustehen. Doch bislang hat sie sich nicht so verhalten. Auf dem anderen Ende gibt es Ansätze eines entstehenden Hindu-Terrornetzwerks. Und ausgerechnet die Hindu-Nationalisten haben der Regierung vorgeworfen, dass sie zu sanft mit Terroristen umgehen. Das sehen wohl auch viele Inder so: Es wird allgemein erwartet, dass die Anschläge sich positiv auf die Umfrageergebnisse der Nationalisten auswirken werden. Deshalb dürfte die Bundesregierung schon aus wahltaktischen Gründen kein Interesse daran haben, das Thema auf die aktuelle politische Agenda zu setzen.
Außerdem befindet sich Indien zurzeit im Wahlkampf. Es stehen Landtagswahlen an, und auch der Vorwahlkampf für die Unterhauswahlen ist schon angelaufen. Ein parteiübergreifenden Konsens ist deshalb unwahrscheinlich.
tagesschau.de: Driftet Indien nach diesen Anschlägen also weiter auseinander?
Voll: Grundsätzlich wird der indische Staat, wenn er seine Einheit bewahren will, nun einen Gang höher schalten müssen, besonders in Fragen der Sicherheitspolitik. Es führt kein Weg vorbei in Richtung einer zentralen Ermittlungs- und Erhebungsstelle. Auch die nicht funktionierenden Geheimdienste müssen dringend reformiert werden.
Das Interview führte Niels Nagel, tagesschau.de.