Alternativer Nobelpreis für Sima Samar "Die Frauen und Kinder werden nicht aufgeben"
Die afghanische Ärztin Sima Samar engagiert sich in ihrem Land für die Frauen- und Menschenrechte. Deshalb wurde sie jetzt mit dem Alternativen Nobelpreis geehrt. Für die Zukunft setze sie auf die junge Generation und die Frauen im Land, sagte Samar im Interview mit tagesschau.de.
tagesschau.de: Sima Samar, Sie haben Medizin studiert. Was sagen Sie als Ärztin über den Patienten Afghanistan?
Sima Samar: Ich denke, dass dieses Land, das viele Kriege und viel Gewalt gesehen hat, und die Bevölkerung wirklich traumatisiert sind. Und es braucht eine Menge Hilfe und Unterstützung, um dieses Land wieder auf die Beine zu bringen.
Die afghanische Ärztin Sima Samar startete 1989 die Hilfsorganisation "Shuhada", die u.a. Schulen betreibt. 2001 wurde sie Ministerin für Frauenangelegenheiten und eine der fünf Stellvertreter von Präsident Karsai. Seit 2002 leitete sie die von ihr gegründete afghanische Menschenrechtskommission in Kabul. Sie ist unter anderem Trägerin des Alternativen Nobelpreises.
Keine Alternativen in Afghanistan?
tagesschau.de: Viele Leute, zum Beispiel bei uns in Deutschland, denken, es macht keinen Sinn mehr, in Afghanistan zu bleiben. Das werde nicht mehr besser, sagen sie. Was antworten Sie denen?
Samar: Aus ihrer Sicht mögen sie recht haben. Aber nur weil sie die Fakten nicht kennen. Sie können die Errungenschaften, die wir jetzt haben, nicht mit der Situation vor elf Jahren vergleichen. Im Dezember 2001 bin ich nach Afghanistan zurückgekehrt. Ich, als Afghanin, war schockiert über die Armut, darüber wie wenige Menschen in Kabul lebten. Und wie wenige Autos in den Straßen zu sehen waren. Manchmal vergingen zehn Minuten, bis wieder ein Auto kam. Schrecklich! Und dann die Verbesserungen die man heute sehen kann! Wieviele Kinder heute eine Schule besuchen. Eine andere Sache aber ist die: Es gab keinen Langfristplan für unser Land. Der 11. September passierte ohne Vorwarnung. Und innerhalb von zwei Monaten entschied die internationale Gemeinschaft, nach Afghanistan zu kommen.
tagesschau.de: 2015 gehen die internationalen Truppen wieder. Was denken Sie, was passiert dann?
Samar: Ich hoffe, nichts Schlimmes. Vielleicht wird sich der Krieg, wie er heute ist, noch etwas fortsetzen. Vielleicht sogar etwas zunehmen, einige Gebiete werden verloren gehen und einige Regierungsbeamte getötet werden. Aber ich glaube nicht, dass die Taliban zurückkommen werden. Aber vielleicht wird es einige oder auch vermehrt konservative Meinungen und Ideen im Land geben. Und diese werden mehr Macht innerhalb der Regierung und ihren Institutionen haben. Aber das hängt alles davon ab, wie wir 2014 in die Wahlen gehen.
Die Frauen werden aktiv
tagesschau.de: Ich habe viele Frauen in diesem Land gesehen. Und sie waren starke Persönlichkeiten. In den Familien, in der Politik. Ist denn der Eindruck richtig, dass es vor allem Frauen sind, die etwas tun gegen die Situation?
Samar: Ja, daran besteht kein Zweifel. In Afghanistan sind die Frauen ziemlich stark. Stellen Sie sich vor, sie haben 35 Jahre Krieg überlebt - aber sie sind immer noch da! Ihre Häuser wurden zerstört, ihre Kinder, Ehemänner, Brüder ermordet- aber sie haben überlebt! Aber immer noch würde ich sagen, ist die Mehrheit der afghanischen Frauen nicht in einer Position, Entscheidungen für die Familie zu treffen. Es ist immer noch eine sehr patriarchale Gesellschaft. Es sind die Männer in den Familien, die Entscheidungen treffen.
Positiv in die Zukunft blicken
tagesschau.de: Sind Sie manchmal optimistisch, dass Ihre positive Vision für Afghanistan wahr wird?
Samar: Ich denke ja, weil wir eine junge Generation haben, die zur Schule geht und Bildung erfährt. Wir haben freie Medien - vielleicht nicht zu 100% - aber zumindest 90%. Wir haben immer noch die Selbstzensur - mich eingeschlossen. Ich will mir nicht noch ein zusätzliches Problem aufhalsen, nur weil ich etwas sehr Riskantes sage. Die gebildeten Kinder in der jungen Generation, und die Frauen, die zumindest eine beschränkte Freiheit in diesem Land erreicht haben, die werden nicht aufgeben.
tagesschau.de: Nun bekommen Sie den Alternativen Nobelpreis. Was bedeutet das für Sie?
Samar: Es ist eine große Ehre und eine Anerkennung meiner Arbeit. Es zeigt, dass die Arbeit, die ich tue, die richtige ist. Und das ist das Wichtigste, es ist gut für die Frauen dieses Landes. Sie können daran sehen, dass wir wahrgenommen werden, und es auch für uns möglich ist, in diesem Land gute Arbeit zu leisten - auch in diesem sehr sehr schwierigen Umfeld. Obwohl: Unser Präsident hat mir noch nicht gratuliert.
Das Interview führte Gábor Halász, ARD-Studio Neu Delhi.