Einschätzung zu Manchester "Alles deutet auf islamistischen Hintergrund hin"
Der gezielte Angriff auf Zivilisten in Manchester spricht für einen islamistischen Hintergrund, sagt Sicherheitsexperte Markus Kaim im Interview mit tagesschau24. Er plädiert für eine stärkere Vernetzung der Sicherheitsdienste.
tagesschau24: Die Polizei spricht von einem Selbstmordanschlag. Wo sehen Sie Hinweise auf einen möglichen islamistischen Hintergrund?
Markus Kaim: Man kann das über ein Ausschlussverfahren herleiten. Andere politische Gruppierungen, die Konflikte mit Großbritannien haben, haben in der Vergangenheit auf unterschiedliche Art und Weise Sicherheitskräfte angegriffen. Aber sie haben sich nie sogenannte "weiche Ziele" gesucht, etwa eine Musikveranstaltung mit vielen jungen Leuten.
Von daher deutet die Handschrift der gestrigen Tat doch auf einen islamistischen Hintergrund hin. Ob das jetzt ein Anschlag des "Islamischen Staates" war, bleibt abzuwarten. In der Vergangenheit hatten wir häufig Anschläge, die von Einzeltätern geplant worden waren und die im Nachhinein dem "Islamischen Staat" (IS) zugeschrieben wurden.
tagesschau24: Erst im März gab es in der Nähe des britischen Parlaments in London einen Anschlag. Steht Großbritannien besonders im Fokus der Terroristen?
Kaim: Ja - und das hat mit der Außen- und Sicherheitspolitik Großbritanniens zu tun. Großbritannien hat keinen Zweifel daran gelassen, dass man entschlossen ist, den IS ebenso wie andere andere islamistische Gruppierungen - etwa Al Kaida - militärisch zu bekämpfen. Das hat Großbritannien nach Afghanistan geführt oder nach Syrien, wo die Briten an vorderster Front gegen den IS kämpfen. Vor diesem Hintergrund darf es uns nicht überraschen - und es überrascht auch die britische Regierung keineswegs -, dass der "Islamische Staat" mitgeteilt hat, dass britische Einrichtungen im Fadenkreuz dieser Gruppierung stehen. Die Gefährdungslage bleibt hoch, auch wenn sich noch niemand zu dem Anschlag bekannt hat.
Der Terror wird militärisch nicht besiegt
tagesschau24: Die Machart erinnert an ähnliche Anschläge des IS in Syrien und im Irak, wo die Terrormilizen immer weiter zurückgedrängt werden. Was hat das für Auswirkungen auf die Terrorgefahr in Europa?
Kaim: Man kann durchaus eine Ausweichbewegung feststellen. Militärisch ist der IS in der Defensive. In Syrien und im Irak wird er zurückgedrängt und vielleicht sogar vernichtet. Aber der "Islamische Staat" bleibt natürlich trotzdem eine Terrororganisation und verübt Anschläge - und das übrigens nicht nur in westlichen Hauptstädten. Wir nehmen die Anschläge dort einfach stärker wahr. Aber die weit überwiegende Zahl der Anschläge wird in Bagdad und in anderen Städten des Iraks und Syriens verübt.
tagesschau24: Was bedeutet dann der neue Anschlag für die Sicherheitslage in Deutschland?
Kaim: In Deutschland ist die Sicherheitslage vielleicht ein wenig besser, auch wenn die Bundesrepublik ebenfalls im Fadenkreuz des internationalen Terrors steht. Denn Berlin beteiligt sich ja auch am Kampf gegen die IS in Syrien. Allerdings nicht an vorderster Front. Es gibt keine deutschen Flugzeuge, die Bomben abwerfen, sondern es handelt sich um eine reine Aufklärungsmission zur Unterstützung unserer Verbündeten. Nichtsdestotrotz gibt es auch Drohungen des "Islamischen Staates" gegen die Bundesrepublik. Von daher glaube ich, dass Deutschland genauso im Fadenkreuz steht wie Großbritannien.
Markus Kaim leitet bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin die Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Der Konfliktforscher lehrt unter anderem an der Universität Zürich und der Hertie School of Governance in Berlin.
"Abschottung hilft nicht"
tagesschau24: In der internationalen Politik nehmen Abschottung und Polarisierung zu. Wie weit hat das Auswirkungen auf die Zusammenarbeit der Staaten im Bereich Sicherheit?
Kaim: Wir stellen fest, dass genau eine gegenteilige Bewegung im Gange ist: eine bessere Vernetzung, ein besserer Informationsaustausch. Wenn wir eine Lehre aus den Terroranschlägen der letzten drei Jahre ziehen können - ich denke an Paris, an Brüssel, an London -, dann ist häufig die mangelnde Vernetzung und die zu starke Abschottung zwischen den Sicherheitsdiensten ein Problem gewesen. Wir brauchen ein Mehr eines vertraulichen Informationsaustausches zwischen Sicherheitsbehörden.
tagesschau24: Mit dem Brexit will sich Großbritannien aus der EU verabschieden, die Verhandlungen sollen bald beginnen. Stehen dann auch Sicherheitsfragen auf dem Prüfstand?
Kaim: Die britische Regierung hat zumindest angedeutet, dass das ein Faustpfand sein könnte. Die britischen Geheimdienste gelten neben dem israelischen Geheimdienst und den amerikanischen Diensten als die besten Geheimdienste der Welt. Da gibt es also ein Interesse der europäischen Länder, den Informationsaustausch mit Großbritannien weiter zu pflegen. Aber auch die britischen Seite ist daran interessiert, in einen vertraulichen Informationsaustausch eingebunden zu bleiben. Von daher gehe ich davon aus, dass hier wenig Abschottung erfolgen wird und dass man auch nach einem Austritt Großbritanniens die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden und den Geheimdiensten auf dem europäischen Festland weiter pflegen wird.
Das Interview führte Ina Böttcher, tagesschau24