UN-Flüchtlingskommissar Guterres "Europa kann das managen"
UN-Flüchtlingskommissar Guterres hat an Europa appelliert, in der Flüchtlingskrise solidarisch zu sein - "sonst werden alle verlieren". Im Interview mit tagesschau.de forderte er auch, auf die Türkei zuzugehen. Guterres warnte vor dem Erstarken von Populisten.
tagesschau.de: Wie sehen Sie die aktuelle Situation von Flüchtlingen in Europa?
Antonio Guterres: Sie können sich vorstellen, dass wir eine Menge Sorgen haben. Die aktuelle Situation ist das Ergebnis von Konflikten zwischen Regierungen, aber auch unter den Parteien in den jeweiligen europäischen Ländern. Dabei ist es jetzt besonders wichtig, die europäischen Staaten sowohl militärisch als auch finanziell zusammenzubringen. Sonst wird es keine Gewinner geben, alle werden verlieren.
António Guterres ist seit 2005 UN-Flüchtlingskommissar. Eigentlich endete seine Amtszeit schon im Juni, sie wurde aber wegen der Krise bis Jahresende verlängert. Von 1996 bis 2002 war er Ministerpräsident von Portugal. Am Freitag erhielt er bei der Verleihung des Deutschen Nachhaltigkeitspreises den Ehrenpreis.
tagesschau.de: Was sind ihre Erwartungen an Europa?
Guterres: Ich hoffe, Europa begreift, dass es nur eine gemeinsame europäische Lösung gibt - und, dass es eine europäische Verantwortung ist, diese Krise zu bewältigen. Die europäischen Staaten müssen sich untereinander solidarisieren. Doch das passiert bisher nicht. Es ist absolut inakzeptabel, dass die meisten Flüchtlinge nach Deutschland, Österreich und Schweden kommen. Die Verteilung ist eine europäische Verantwortung, das kann Europa nur gemeinsam schaffen. Andernfalls kann es leicht passieren, dass populistische Politiker diese Krise zu ihren Gunsten nutzen.
Ebenso sollte Europa sich mit der Türkei verständigen, das passiert ja auch schon. Man sollte die Interessen und Bedingungen der Türkei respektieren. Europa braucht die Türkei, immerhin ist sie bisher das größte Flüchtlingsaufnahmeland und momentan in der Flüchtlingsfrage der Dreh- und Angelpunkt.
tagesschau.de: Wie nützlich sind Hotspots?
Guterres: Ich mag das Wort Hotspots nicht. Es hat einen schlechten Beigeschmack. Was wir brauchen, ist ein Aufnahmeort, ein zentraler Punkt, wo wir die Menschen willkommen heißen, sie registrieren, sie überprüfen und später anhand eines fairen Verteilerschlüssels auf alle europäischen Länder verteilen. Das sollten die europäischen Politiker gemeinsam auf den Weg bringen.
Doch da ist eine Art von Misstrauen: Die eine Seite sagt, das ist nicht unsere Aufgabe, die andere Seite ist sich nicht sicher, wie und ob sie nun handeln soll. Dazwischen bleiben Hunderttausende von Menschen auf der Strecke. Das ist ein europäisches Projekt. Doch momentan funktioniert das System nicht, und wir erleben chaotische Zustände wie beispielsweise auf dem Balkan.
tagesschau.de: Wie geht es in der Flüchtlingskrise weiter?
Guterres: Damit Menschen in ihrer Heimat bleiben können, sind einerseits massive Investitionen in Ländern wie Syrien, Irak, aber auch in Afghanistan nötig. Wir sollten ein Interesse haben, die Regierungschefs der Länder, aus denen die Flüchtlinge kommen - wie Libanon oder Syrien -, in all ihren Problemen zu unterstützen. Wir müssen außerdem Bedingungen dafür schaffen, dass Menschen mit ihren Familien legal nach Europa, Nordamerika oder Australien auswandern dürfen - oder wohin auch immer. Nur so können wir den kriminellen Menschenschmuggel beenden.
Ich hoffe, dass Europa die Flüchtlingskrise als globale Anstrengung begreift. Die Aufgabe ist zu managen - und Europa kann das auch managen.
Das Interview führte Melahat Simsek für tagesschau.de.