UN-Flüchtlingskommissar Grandi "Eine Ära totaler Mobilität"
"Die Liste der Probleme ist lang, und sie sollte uns um den Schlaf bringen", sagt UN-Flüchtlingskommissar Grandi im Interview mit dem ARD-Studio Genf. 65 Millionen Menschen seien auf der Flucht. Und es würden nicht weniger: "Wir haben eine Ära totaler Mobilität erreicht", sagt Grandi.
ARD: Hochkommissar Grandi, welche aktuellen Trends beunruhigen Sie am meisten?
Filippo Grandi: Es sind leider die steigenden Zahlen. Ein Megatrend. Mehr als 65 Millionen Menschen sind aus ihrer Heimat vertrieben, suchen Asyl. Das ist ein Anstieg um zehn Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Und schon im vergangenen Jahr haben wir einen Anstieg um zehn Prozent verzeichnet. Das ist nicht gut. Hinzu kommt, dass 90 Prozent der Vertriebenen in Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen leben. 50 Prozent der Flüchtlinge sind Kinder. Die Liste der Probleme ist lang, und sie sollte uns um den Schlaf bringen.
ARD: Die Flüchtlingskrise ist mittlerweile aus den Schlagzeilen in Deutschland und Europa weitgehend verschwunden. Man könnte fast meinen, sie sei gelöst.
Grandi: Die Flüchtlinge, die im vergangenen Jahr nach Europa gekommen sind, hatten eine wichtige Botschaft: Wenn Ihr die Probleme nicht vor Ort löst, kommen die Probleme zu euch. Grenzen zu errichten, auf dem Gesetzesweg oder in Form von Mauern, sind keine Antwort. Das verlagert vielleicht die Probleme, aber sie werden wiederkommen.
Filippo Grandi, geboren 1957, ist seit Anfang 2016 Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen. Der Italiener ist seit langem mit den UN vertraut. Seinen ersten UN-Posten hatte er 1988 - beim UNHCR. Er war später Chef der UNHCR-Mission in Afghanistan und Stabschef im Hauptquartier in Genf. Von 2010 bis 2014 war Grandi Chef des UN-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA), nachdem er mehrere Jahre lang stellvertretender Leiter der Behörde war.
ARD: Entspricht der Türkei-Deal - so weit Sie ihn kennen - Ihren Ansprüchen?
Grandi: Es wäre mit Sicherheit besser gewesen, wenn Europa die ursprünglichen Entscheidungen auch umgesetzt hätte. Grenzkontrollen, Registrierung von Flüchtlingen und Verteilung nach einem festen Schlüssel. Das wäre ein sehr viel besseres System gewesen. Es hätte Ordnung in den Flüchtlingsstrom gebracht und die Lasten in Europa verteilt. Dann hätte es nicht so ein politisches Drama gegeben.
ARD: Deutschland wurde einst für seine Willkommenskultur gelobt. Das gilt auch für den Kurs von Kanzlerin Angela Merkel. Das hat sich in den vergangenen Monaten dramatisch geändert. Wie sehen Sie diese Entwicklung?
Grandi: Ich glaube, sie hat in der Flüchtlingskrise nach dem Grundsatz der Solidarität gehandelt. Das hat manchmal einen politischen Preis. Aber es zeigt auch den Mut einer Regierungschefin, sich an Grundsätze zu halten, selbst wenn die öffentliche Meinung davon abweicht. Die Kanzlerin und ihre Regierung waren immer extrem offen gegenüber gesamteuropäischen Lösungen. Konstruktiv, konkret, pragmatisch, aber auch prinzipenfest. Das ist der richtige Weg. Ich lobe die deutsche Regierung dafür ausdrücklich.
ARD: Das deutsche Asylrecht wurde in den vergangenen Monaten allerdings verschärft. Macht Ihnen das nicht Sorgen?
Grandi: Diesen Trend sehen wir überall in Europa. Selbst Staaten, die sehr offene Asylsysteme hatten, haben sie verschärft. Es geht dabei nicht nur um Asylregelungen in Europa. Die ganze Welt schaut auf die europäischen Standards. Europa hat das moderne Asylrecht in den späten 1940er-Jahren geboren. Die Grundsätze müssen hochgehalten werden, der Flüchtlinge wegen, die hier ankommen, aber auch wegen der Flüchtlinge weltweit. Ansonsten sehen wir eine Erosion dieser Standards und spielen mit dem Leben von Menschen. Das ist die Realität.
ARD: Immer mehr Kinder kommen nach Europa über das Mittelmeer. Wie alarmierend ist das?
Grandi: Manchmal sind sie die mobilsten Familienmitglieder und die Eltern geben ihr Geld in die Hände von Schmugglern, damit sie woanders ein besseres Leben führen können. Das ist gewissermaßen eine Investition in die Zukunft der Familie. Das ist extrem traurig und tragisch. Deshalb müssen wir für den bestmöglichen Schutz der Kinder sorgen. Das ist kompliziert, aber sehr dringlich.
ARD: Was ist Ihr Appell an Europa? Was könnte eine Lösung sein?
Grandi: Handeln Sie verantwortlich, mutig! So lange Konflikte nicht gelöst werden, Armut und Klimawandel nicht angegangen werden, werden Menschen weiter fliehen. Wir haben eine Ära totaler Mobilität erreicht. Es ist unmöglich, den Flüchtlingsstrom zu stoppen. Sie müssen die Probleme in einer vernünftigen Weise lösen.