Generalstreik in Frankreich "Macron hat Ruf als Reformer zu verlieren"
Der Generalstreik in Frankreich könnte für den Präsidenten zur Feuerprobe werden: "Macron muss die Rentenreform durchbringen - komme, was wolle", sagt Politikwissenschaftler Grillmayer im tagesschau-Interview.
tagesschau24: Repräsentieren diejenigen, die das Land lahmlegen, überhaupt eine Mehrheit in Frankreich?
Dominik Grillmayer: Die Rentenreform ist in erster Linie darauf ausgelegt, dass Privilegien abgebaut werden. Die Hauptbetroffenen sind im Endeffekt Beschäftigte des öffentlichen Dienstes und von Staatsunternehmen. Sie haben das größte Interesse daran, gegen diese Reform auf die Straße zu gehen, weil es um ihre Vorrechte und ihre Sonderrechte geht. Grundsätzlich ist aber auch die Solidarität in der Bevölkerung für den Moment noch relativ groß.
tagesschau24: Aber die Reform war eben auch ein Wahlversprechen von Präsident Emmanuel Macron. Wer wartet denn auf die Einlösung dieses Versprechens?
Grillmayer: In erster Linie mal seine Wähler, die ihn 2017 vor allen Dingen deshalb gewählt haben, weil er versprochen hat, dass er die heißen Eisen wie die Rentenreform anfasst. An diese haben sich schon mehrere Präsidenten herangewagt. Allerdings mit sehr mäßigem bis geringem Erfolg. Er hat definitiv auch einen Ruf als großer Reformer zu verlieren. Entsprechend muss sein Interesse groß sein, trotz der erheblichen Proteste diese Rentenreform durchzubringen - komme, was wolle.
Dominik Grillmayer ist Politologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter sowie Leiter des Bereichs Gesellschaft am Deutsch-Französischen Institut in Ludwigsburg. Er forscht zu politischen Anpassungsprozessen.
"Gewerkschaften haben viel zu verlieren"
tagesschau24: Aber was könnte für ihn denn dann bei der nächsten Wahl gefährlicher werden: Das Durchziehen der Reform oder es bleiben zu lassen?
Grillmayer: Langfristig wäre es ein massiver Schaden, der ihm entsteht. Quasi ein Zeichen von Schwäche, wenn es ihm nicht gelingen würde, trotz Widerstands seine lange angekündigte, im Wahlkampf versprochene, Rentenreform durchzuziehen. Die großen Herausforderungen warten jetzt zunächst einmal unmittelbar auf ihn - weil man nicht weiß, wie lange diese Mobilisierung anhalten wird.
Es gibt eine große Solidarisierung mit den Gewerkschaften, die zu den Protesten aufgerufen haben. Sie haben sehr viel zu verlieren, denn sie haben es in den vergangenen Jahren immer seltener geschafft, Reformvorhaben der Regierung zu verhindern. Wenn ihnen das diesmal wieder nicht gelingt, dann ist es wiederum deren Schwäche, die offen zutage tritt.
"Kleinere Reformen umsetzen"
tagesschau24: Das gesetzliche Renteneintrittsalter in Frankreich liegt in der Regel bei 62 Jahren. Viele privilegierte Berufsstände gehen sogar mit 50 in den Ruhestand. Sind sich die Franzosen eigentlich bewusst, in was für einer komfortablen Situation sie da leben?
Grillmayer: Die Franzosen würden sagen: Die Rentenversicherung in Frankreich gehört zu den sozialen Errungenschaften. Daran sollte man tunlichst nicht Hand anlegen. Kein Präsident sollte das tun. Die meisten haben es in den letzten Jahrzehnten versucht, und man ist so peu à peu vorangekommen. Zum Beispiel hat Nicolas Sarkozy das Renteneintrittsalter seinerzeit von 60 auf 62 erhöht. Man kann so kleinere Reformen umsetzen. Aber diesen "Big Bang", den Macron angekündigt hat, da werden wir sehen, wie der funktioniert.
Generell ist in Frankreich zunächst noch die Ansicht verbreitet, dass diese Rentenversicherung ein gewachsenes System ist, das es zu erhalten gilt. Gleichzeitig - und das betrifft vor allen Dingen die Wähler von Macron - gibt es viele, die sagen, es herrsche dort nicht gleiches Recht für alle. Man müsse Privilegien abschaffen und ein einheitliches System schaffen.
"Es müssen konkrete Vorschläge kommen"
tagesschau24: Angesichts dieser Proteste: Würden Sie sagen, Macron hat Fehler beim Bewerben seiner Pläne gemacht?
Grillmayer: Er hat sicherlich damit zu kämpfen, dass man nur Eckpunkte kennt. Es gab einige Testballons, die dazu gedient haben, einmal zu sehen: Wie reagiert die Öffentlichkeit darauf? Wo könnte man vielleicht auch Kompromisse eingehen, um im Vorfeld die Mobilisierung geringer zu halten? Das ist ganz offensichtlich nicht geglückt. Sein Regierungschef Édouard Philippe muss jetzt relativ schnell mit konkreten Vorschlägen um die Ecke kommen und zeigen, worauf es hinausläuft. Damit einige vielleicht auch feststellen können, "so schlimm ist es ja gar nicht", oder "mich persönlich wird es in dem Maße nicht betreffen".
tagesschau24: Vor 24 Jahren sind ähnliche Reformpläne der französischen Regierung nach heftigen Protesten zurückgenommen worden. Wagen Sie eine Einschätzung, wie es diesmal ausgehen wird?
Grillmayer: Der Ausgang ist völlig offen. Generalstreik bedeutet: Es wird in den nächsten Tagen noch weitergehen. Vor 24 Jahren ist das drei Wochen lang so gegangen. Der damalige Premierminister Alain Juppé, der seinerzeit überzeugt war, die Reformen durchbringen zu können, musste nach drei Wochen die Segel streichen und diese zurückziehen. Macron wird alles versuchen, um das zu verhindern. Wir werden in den kommenden Tagen wirklich massive Proteste erleben. Wir können nur hoffen, dass sie nicht auch noch von Gewalt geprägt sein werden.
Das Interview führt Gerrit Derkowski, tagesschau24. Es wurde für die schriftliche Fassung redigiert und leicht gekürzt. Die vollständige Fassung finden Sie als Video auf dieser Seite.