Ein Demonstrant mit erhobener Faust steht vor einem brennenden Gebäude, das während einer Demonstration in Minneapolis, Minnesota, in Brand gesteckt wurde.
interview

Unruhen in den USA "Mehr als die Wut über den Fall George Floyd"

Stand: 01.06.2020 05:30 Uhr

Die Proteste in den USA eskalieren. Viele Demonstranten fühlen sich systematisch diskriminiert und halten Gewalt für ein Mittel, sich Gehör zu verschaffen, berichtet ARD-Korrespondent Jan Philipp Burgard im Interview mit tagesschau.de.

tagesschau.de: Wie haben Sie die vergangenen Tage und Nächte in Minneapolis erlebt?

Jan Philipp Burgard: Schockiert hat mich persönlich besonders die Zerstörungswut vieler Demonstranten. Wir haben beobachtet, wie reihenweise Gebäude niedergebrannt wurden. Ein junger Mann schlug mit einer Axt Fensterscheiben ein. Kleine Gruppen zogen durch die Straßen und plünderten systematisch Geschäfte. Bilder wie in einem Bürgerkrieg, die ich nicht vergessen werde. Schade, dass diese Gewalt von den friedlichen Protesten ablenkt, die nach dem Tod von George Floyd auf Rassismus und Polizeigewalt aufmerksam machen wollen.

Zur Person
Jan Philipp Burgard studierte Politik, Neuere Geschichte und Öffentliches Recht in Bonn und Paris. Als Producer im ARD-Studio Washington erlebte er Obamas Aufstieg zum ersten schwarzen US-Präsidenten und promovierte über dessen "Jahrhundertwahlkampf". Seit 2017 ist er USA-Korrespondent der ARD.

tagesschau.de: Wer geht in Minnesota auf die Straße? Sind es überwiegend Angehörige der schwarzen Gemeinschaft oder erleben Sie den Protest als gemischt?

Burgard: Wir haben den Protest eher als gemischt erlebt. Und manche Demonstranten waren erstaunlich gut organisiert, sie haben etwa mit Funkgeräten kommuniziert. Es waren auch ausgebildete Ersthelfer vor Ort, die Demonstranten versorgt haben, wenn sie Tränengas in die Augen bekommen hatten.

tagesschau.de: Am Vortag hieß es, dass sich auch weiße Nationalisten unter die Demonstranten mischen - haben Sie derlei auch beobachtet?

Burgard: Der politische Hintergrund der Demonstranten ist für uns oft nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Auch in Gesprächen lässt sich dies nicht immer eindeutig klären. Präsident Trump glaubt, dass die gewaltsamen Proteste von linksradikalen Gruppen angeführt werden. Er will die Antifa jetzt als Terrororganisation einstufen. Der Gouverneur von Minnesota hingegen glaubt, dass die Gewalt auch von weißen Rassisten angeheizt wird.

tagesschau.de: In vielen Städten setzen sich Menschen über Ausgangssperren hinweg. Was kommt darin zum Ausdruck?

Burgard: Es entlädt sich mehr als die Wut über den Fall George Floyd. Schwarze Demonstranten sagen uns immer wieder, dass sie sich schon lange und systematisch diskriminiert fühlen. Und viele hier halten Gewalt für das einzige Mittel, um sich endlich Gehör zu verschaffen. Darüber hinaus ist auch viel Frustration über die wirtschaftliche Situation der USA zu spüren. Bedingt durch die Corona-Krise haben mehr als 40 Millionen Amerikaner ihren Job verloren. Sozialer Aufstieg war hier selten so schwer. All das könnte sich wie ein Brandbeschleuniger auswirken. Weil sich die Proteste überall in den USA ausbreiten, sprechen Beobachter schon von den größten Unruhen seit der Ermordung von Martin Luther King im Jahr 1968.

tagesschau.de: Verschiedene Medien berichten über Angriffe auf Reporter. Haben Sie auch den Eindruck, dass Berichterstatter in diesen Tagen besonders gefährdet sind?

Burgard: In diesen gespaltenen Staaten von Amerika wirft man Journalisten oft pauschal eine einseitige Berichterstattung vor. Denn die Medienlandschaft ist so polarisiert wie die Gesellschaft selbst. CNN gilt als linksliberal, Fox News als erzkonservativ. Einen öffentlich-rechtlicher Rundfunk wie in Deutschland, der in der Mitte der Gesellschaft steht, gibt es in den USA in dieser Form nicht. So erleben auch wir als Journalisten aus dem Ausland hier manche Feindseligkeiten. Übrigens nicht nur von Demonstranten, sondern auch von der Polizei.

tagesschau.de: Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Burgard: In einer Nacht gerieten wir zwischen Einsatzkräfte und Demonstranten. Wir gaben uns als Presse zu erkennen und baten die Polizei, uns einen Ausweg aus der Situation zu ermöglichen. Doch ein Beamter brüllte uns entgegen: "Verpisst Euch!". Journalistenkollegen berichten, dass gegen sie mit Pfefferspray und Gummigeschossen vorgegangen wurde. Ob das absichtlich oder versehentlich passierte, kann ich nicht beurteilen.

tagesschau.de: Wie können Sie das Vorgehen der Polizei beschreiben? Auf Twitter gibt es zahlreiche Bilder, die einen überharten Einsatz zu belegen scheinen.

Burgard: In der ersten Nacht nach unserer Ankunft in Minneapolis waren wir sehr überrascht, dass Polizei und Nationalgarde bei Plünderungen und Brandstiftungen oft tatenlos zusahen. Man wollte wohl unbedingt vermeiden, dass es hier bei Zusammenstößen Tote gibt. Weil die Proteste nicht abebbten, gab es offenbar einen Strategiewechsel. Allein in Minneapolis wurden 13.000 Soldaten der Nationalgarde mobilisiert, die Polizei setzt verstärkt Tränengas und Gummigeschosse ein. Doch auch davon lassen sich viele Demonstranten nicht abschrecken.

tagesschau.de: Fälle von Polizeigewalt gibt es regelmäßig in den USA, auch, dass Menschen im Zuge der Festsetzung ums Leben kommen - ein ähnlicher Fall sorgte 2014 weltweit für Schlagzeilen. Hat die Polizei daraus Konsequenzen gezogen?

Burgard: Ob Michael Brown in Ferguson, Eric Garner in New York, Freddie Gray in Baltimore oder jetzt George Floyd in Minneapolis - auf jeden dieser Fälle folgten Proteste und eine große politische Debatte. Aber die Wahrscheinlichkeit, Opfer von Polizeigewalt zu werden, ist für Schwarze immer noch dreimal so hoch wie für Weiße. Daran konnte auch Barack Obama während seiner Präsidentschaft nichts ändern. Mein Eindruck ist sogar, dass der Rassismus in der Gesellschaft zuletzt zugenommen hat.

tagesschau.de: Wie beurteilen Sie die Rolle von US-Präsident Trump nach dem Tod von George Floyd und während der Proteste?

Burgard: Präsident Trump hat immer wieder rhetorisches Öl ins Feuer gegossen. Etwa mit seiner Aussage "Wenn das Plündern beginnt, wird geschossen" ("when the looting starts, the shooting starts"). Eine Formulierung, die von dem weißen Polizeichef Miamis stammt und 1967 eine Kontroverse auslöste. Außerdem drohte Trump den Demonstranten in Washington wörtlich, er werde mit "bösartigen Hunden" und "unheilbringenden Waffen" gegen sie vorgehen, wenn sie den Zaun des Weißen Hauses überwinden würden. Trump versucht gar nicht erst, die Gesellschaft zu einen. Wie kein Präsident vor ihm setzt er nicht auf Versöhnung, sondern auf Spaltung. Damit war er schon im Präsidentschaftswahlkampf 2016 erfolgreich. Ob diese Strategie noch einmal aufgeht, wird sich bei der Wahl am 3. November zeigen.

Die Fragen stellte Eckart Aretz, tagesschau.de.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 31. Mai 2020 um 20:00 Uhr.