Interview mit israelischem Sicherheitsexperten "Den Medienkrieg hat Israel längst verloren"
Die öffentliche Meinung ist nicht auf der Seite Israels - das sagt aber nichts über die Legitimität der israelischen Politik aus, meint der Ex-Chef des Nationalen Sicherheitsrats, Jaakov Amidror. Im Interview mit ARD-Korrespondent Richard C. Schneider spricht er über den Gaza-Krieg und Antisemitismus in Europa.
Richard C. Schneider: Es überrascht, dass Terroristen durch Tunnel ins israelische Territorium eindringen konnten, durch Tunnel, die die Armee bereits gefunden hatte. Wie konnte das passieren?
Jaakov Amidror: Es geht nicht um gerade Reihen von Tunneln, vielmehr handelt sich um ein Netzwerk, in dem jeder Tunnel von mehreren Stellen aus betreten werden kann, wobei einige von ihnen in der Mitte, am Anfang und am Ende verbunden sind. Daher ist es so kompliziert. Es genügt nicht, den Eingang zu finden. Man muss durch das ganze Netzwerk gehen. Erst dann kann man sicher sein, dass das System neutralisiert ist. Und deshalb benötigen wir mehr Zeit. Bevor ein Waffenstillstand ansteht, werden wir das Tunnelnetzwerk neutralisieren.
Schneider: Es heißt, dass der Inlandsgeheimdienst und die Armee von den Tunneln wussten, aber nichts unternommen haben.
Amidror: Der Geheimdienst hat offensichtlich eine gute Lageeinschätzung gegeben. Wir wussten, dass es viele Tunnel gibt, die vom Gaza nach Israel führen. Ich persönlich habe alle Experten, die auf diesem Gebiet arbeiten, in mein Büro gebracht, auf Bitte des Premierministers, um sicher zu stellen, dass sie verstehen, dass es sich aus Netanjahus Blickwinkel um eine reale Bedrohung handelt. Aus dem Bericht ging hervor, dass es noch keine Lösung gibt. Das war vor ungefähr eineinhalb Jahren.
Leute fragen sich, wie wir eine Lösung wie das Raketenabwehrsystem "Eiserne Kuppel" finden konnten, aber keine Lösung für die Tunnel. Das ist sehr einfach: Zur "Eisernen Kuppel" gelangten wir nach 30-jähriger Erfahrung mit Raketen und Raketenabwehr. Wir hatten aber keinerlei Erfahrungen auf dem Gebiet unterirdischer Tunnel, und wir haben noch keine Lösung gefunden. Wir haben seitdem sehr hart an einer Lösung gearbeitet, aber wir haben noch keine gefunden. Es kann noch Tage dauern, vielleicht aber auch Monate oder sogar ein Jahr.
Jaakov Amidror war bis November 2013 Chef des Nationalen Sicherheitsrats und Nationaler Sicherheitsberater von Premier Netanjahu. Karriere machte er zunächst in der Armee. Amidror zählt zum rechten politischen Flügel, so hatte er sich 2005 scharf gegen den Gaza-Abzug ausgesprochen.
Schneider: Befürchten Sie ein ähnliches Tunnelsystem auch an den Grenzen zum Libanon und zu Syrien?
Yaakov Amidror: Es gibt einen großen geologischen Unterschied zwischen den Orten. Im Gazastreifen gibt es sehr weichen sandigen Boden, der den Tunnelbau erleichtert. Ich glaube nicht, dass ein Tunnelnetzwerk wie in Gaza auch im Norden entstehen wird - und zwar aufgrund der Unterschiede zwischen dem Felsgestein im Norden und dem Sandboden im Süden. Dennoch stellt es ein Problem dar. Aber wenn wir eine Lösung für das Problem in Gaza finden, so wird es uns helfen, Lösungen für die Probleme im Norden zu finden.
So ist es nun einmal: Es ist Krieg. Die andere Seite versucht einen zu überraschen, und man versucht im Gegenzug eine Lösung zu finden, um sie auch zu überraschen. Deswegen sind wir auch so entschlossen, alle Tunnel zu zerstören. Die Hamas errichtet die Tunnel inmitten von Wohnhäusern, inmitten von Moscheen. Es gibt also keinen Weg, die Zivilbevölkerung zu verschonen. Wir werden erst abziehen, wenn die Tunnel nicht mehr einsatzfähig sind. Zivilisten sitzen, leben in denselben Häusern, in denen sich die Tunneleingänge befinden, und die Hamas gestattet den Zivilisten nicht, das Gebiet zu verlassen.
Netanjahus Mission: alle Tunnel zerstören
Schneider: Premierminister Netanjahu war sehr zurückhaltend. Auch jetzt noch befiehlt er nicht den kompletten Einmarsch.
Amidror: Ein umfassender Bodentruppeneinsatz würde letztendlich bedeuten, Gaza zu erobern und zu kontrollieren, alle Terroristen sowie die Raketenwerfer zu finden. Es würde bedeuten, dass wir uns den ganzen Weg nach Gaza hinein vorkämpfen müssten, dann innerhalb Gazas zu kämpfen hätten, und dann sechs bis zwölf Monate Gaza aufräumen müssten. Das wäre für uns eine sehr verlustreiche Operation. Viele israelische Soldaten würden getötet werden, aber noch viel mehr Palästinenser, da es sich um eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt handelt. Und da die Hamas sich hinter der Zivilbevölkerung versteckt und von da aus kämpft, würden viele Zivilisten getötet werden.
Eine Entscheidung darüber sollte also der letzte Ausweg sein. Und vielleicht hat der Premierminister im Moment das Gefühl, dass es noch nicht der letzte Ausweg ist. Er könnte jedoch zu dieser Schlussfolgerung gelangen, wenn er keine andere Alternative mehr sieht, und dann wird es einen umfassenden Einsatz gegen Gaza geben. Ich glaube jedoch, dass er heute der Meinung ist, dass er die Mission zu erfüllen hat, alle Tunnel zu zerstören, und dann zu entscheiden hat, ob das das Ende sein soll oder ob zur zweiten Phase überzugehen ist.
Schneider: Und ein Waffenstillstand?
Amidror: Wir sollten das Gebiet nicht der Hamas überlassen, ohne die Tunnel zerstört zu haben. Ich glaube, dass die Amerikaner verstehen, dass wenn sie den Palästinensern in Gaza die Chance geben wollen, ihr Leben neu zu gestalten, so sollte dies in Kooperation mit Ägypten geschehen. Ohne Ägypten geht es nicht. Und ich sehe weder uns noch die Ägypter zustimmen, dass die Hamas ihr Potenzial in der Zukunft wieder aufbaut. Da die Ägypter die gefährliche Situation verstehen, die die Hamas für sie darstellt, und wir die Gefahr einer starken Hamas für uns verstehen, ist es in unser beider Interesse, dass die Hamas militärisch geschwächt wird.
Schneider: Einen Krieg hat Israel bereits verloren: den Medienkrieg.
Amidror: Er war bereits vor dem Krieg verloren. Wir wissen, dass wir eine weitaus bessere Stellung in der Europäischen Gemeinschaft hätten, wenn wir bluten würden. Wir haben jedoch nicht die Absicht, wieder zu bluten. Deshalb existiert der Staat Israel.
Schneider: Gibt es noch eine Chance, diesem verlorenen Medienkrieg etwas entgegen zu halten?
Amidror: Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen: Während eines der Treffen mit der Bundeskanzlerin, Angela Merkel, sagte jemand im Zimmer, dass die öffentliche Meinung mehrheitlich gegen die israelische Politik ist. Sie reagierte sofort. Sie sagte, dass dies nichts beweise. Die Tatsache, dass die Mehrheit gegen Israel ist, sagt nichts über die Legitimität und die Lage Israels aus. Bei allem Respekt für die Mehrheit der Medien - ich weiß nicht, ob es auf den durchschnittlichen europäischen Bürger zutrifft. Die Tatsache, dass die Mehrheit der Medien gegen Israel ist, sagt überhaupt nichts über die Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit bezüglich dessen, was Israel tut.
Schneider: Wie besorgt sind Sie, dass der Antisemitismus in Europa zunimmt?
Amidror: Sehr. Ich denke nicht, das die Sorge uns betrifft. Wir sind bereit, alle Juden aufzunehmen, die nach Israel kommen wollen. Es ist also eine europäische Angelegenheit, ein europäisches Problem. Die Europäer sollten sich darum Sorgen machen, nicht wir. Wir haben keine Angst vor Antisemitismus in Europa. Ihr Europäer solltet Angst davor haben.
"Es waren Hamas-Mitglieder"
Schneider: Zurück zur Lage in Gaza. Es gibt zwei Probleme, die in Europa als das Versagen der Netanjhu-Regierung gesehen werden. Erstens: Dass sie dem moderaten Palästinenserpräsidenten Machmud Abbas in neun Monaten nichts angeboten haben. Zweitens: Dass es nicht die Hamas war, die die drei Jugendlichen getötet haben, sondern eine unabhängig operierende Zelle.
Amidror: Während der neun Monate Verhandlungen habe ich nicht gesehen, dass die Palästinenser uns etwas gegeben haben. Im Gegenteil, wir entließen Dutzende Terroristen, nur um Abbas Spielraum zu geben, damit er in seinem Umfeld besser dasteht, mit uns verhandelt und Kompromisse eingeht. Er tat es nicht. Israel zahlte also den Preis in den Verhandlungen.
Jede Seite ist also entschlossen, ihre jeweilige Position beizubehalten und das zu erreichen, was sie für ihren Staat und ihre Leute für gut befindet. Das ist in Ordnung. Aber zum Schluss sagten wir Ja und Abbas sagte Nein zum Vorschlag der USA. Wenn also jemandem Vorwürfe zu machen sind, dann den Palästinensern, nicht uns. Bei allem Respekt, ich weiß, dass in Europa erwartet wird, dass Israel alles gibt und die Palästinenser nichts geben. Das ist in Ordnung, wir wissen es.
Was die Entführung und Ermordung der drei Jugendlichen angeht: Wir wissen mit Sicherheit von unserem Geheimdienst, dass dies von Hamas-Mitgliedern getan wurde. Ich weiß nicht, auf welcher Ebene der Hamas Informationen vorlagen, aber wir wissen mit Sicherheit, dass jene, die es taten, Hamas-Mitglieder sind. Wir wissen es mit Sicherheit.