Interview zum Tsipras-Besuch "Demut wird es nicht mehr geben"
Viele Deutsche lehnen weitere Hilfspakete für Griechenland ab. Dabei hat das Land so sehr gespart, dass viele Menschen verarmten. Der Journalist Michalis Pantelouris sagt: Die Griechen stehen hinter Premier Tsipras - und erwarten eine ande
tagesschau.de: Mit welchen Problemen kommt der griechische Ministerpräsident Tsipras nach Deutschland?
Michalis Pantelouris: Die Krise der vergangenen Jahre hat dazu geführt, dass die griechische Wirtschaft fast um ein Drittel geschrumpft ist. Dadurch ist die Mittelschicht in die Armut abgerutscht, denn es gibt keine Sozialhilfe - nur ein geringes Arbeitslosengeld für zwölf Monate. Hunderttausende stehen an Suppenküchen an. Dreißig Prozent der Griechen haben keine Krankenversicherung mehr - auch die ist an den Job gekoppelt. Viele können es sich nicht mehr leisten, ihre Wohnung zu heizen.
Zugleich ist das Gesundheitssystem stark abgebaut worden. Dadurch ist die Säuglingssterblichkeit massiv gestiegen. In Griechenland vollzieht sich inzwischen eine humanitäre Katastrophe. Dagegen muss die neue Regierung als erstes angehen. Dazu gehören die Maßnahmen, die in der vergangenen Woche vom Parlament beschlossen worden sind und die sicherstellen sollen, dass die 300.000 ärmsten Familien Lebensmittelmarken und wieder Strom bekommen.
Mit diesem wirtschaftlichen Bankrott geht auch ein moralischer Bankrott einher. Die Stimmung in Griechenland ist höchst gedrückt. Stellen Sie sich vor, dass Sie Menschen aus ihrem Umfeld auf einmal unter den Obdachlosen entdecken. Das drückt auf die Moral einer Gesellschaft und prägt ihre Kultur.
tagesschau.de: Wie halten sich die Arbeitslosen dann über Wasser?
Pantelouris: Es gibt ein System, das immer funktioniert, und das ist die Familie. Viele ziehen wieder zu ihren Eltern oder Großeltern. Es gibt Familien auf dem Land, die nur von der einen Rente leben, die der Großvater noch bezieht. Es ist inzwischen ganz normal, dass die Menschen ihre Möbel verfeuern. Selbst wer eine Arbeit besitzt, verdient häufig so wenig, dass er die Heizung nicht mehr bezahlen kann. Meine Schwester, die noch eine Beschäftigung hat, wohnt in einem Mehrfamilienhaus, in dem keine einzige Wohnung mehr beheizt wird.
Widerstand gegen ideologische Auflagen
tagesschau.de: Dennoch geht es, wenn die EU und Griechenland über Reformen sprechen, nicht um Sozialprogramme. Hat die Bevölkerung dafür Verständnis angesichts leerer Kassen?
Pantelouris: Man muss immer schauen, um welche Reformen es geht. Meine Generation - ich bin 40 Jahre alt - fordert seit 20 Jahren, dass eine funktionierende, effektive Verwaltung aufgebaut wird, dass die Steuern ordentlich eingetrieben werden, dass das Gesundheitssystem modernisiert wird. In die Bedingungen für die Hilfspakete ist aber Ideologie eingeflossen - die Kürzung von Staatsausgaben, auch wenn sie möglicherweise sinnvoll sind, die Privatisierung von Staatseigentum und die komplette Deregulierung von Märkten. Dieser Teil hat das Land mehr deformiert als reformiert, und dagegen wehren sich viele Griechen.
Was schwierig war, wurde unmöglich
tagesschau.de: Haben denn die bisherigen griechischen Regierungen Reformen eingeleitet, die Sie für sinnvoll halten?
Pantelouris: Da ist wenig geschehen, und das obwohl die Troika sehr tief in einzelne Gesetzestexte eingegriffen hat. Aber der Fokus der Troika lag vor allem auf dem Sparprogramm, das auch erfolgreich durchgeführt wurde. Noch nie hat ein Land in Friedenszeiten so viel gespart wie Griechenland. Zugleich wurde auf Drängen der Troika stark am Gesundheitssystem gespart, am Verteidigungshaushalt aber sehr viel weniger.
Der Verwaltungsapparat wurde - zu Recht - immer wieder als aufgebläht kritisiert. Sein Kernproblem aber war, dass er ineffizient war. Und das ändert man nicht nur dadurch, dass man Stellen abbaut. Heute sind Dinge fast unmöglich, die früher sehr schwierig waren. Für Kleinunternehmer wie mich ist es überaus problematisch, im Dschungel der griechischen Bürokratie ein Unternehmen zu gründen. Das ist nicht einfacher geworden.
tagesschau.de: Gilt das auch für die Steuerbehörden?
Pantelouris: Für die Ärmeren und die untere Mittelschicht sind die Steuern in den vergangenen fünf Jahren enorm gestiegen, für die Vermögenden dagegen nur um einen Bruchteil dessen. Da das Einziehen der Steuern immer noch nicht besonders gut funktioniert und es für die Reichen immer einfacher ist, sich der Steuerpflicht zu entziehen, ist ein ohnehin schlecht funktionierendes System noch einmal schlechter geworden. Hier spielt auch eine Rolle, dass die alten Regierungen mit den Eliten eng verbunden waren. Die Folge: Das Steuersystem bringt nicht die Steuereinnahmen, die man erhofft hat, und es bringt die Bürger noch weiter gegen den Staat auf.
Die Chancen nutzen
tagesschau.de: Der Druck auf Ministerpräsident Tsipras ist also enorm. Was geschieht, wenn er in den Augen seiner Wähler scheitert?
Pantelouris: Tsipras steht von allen Seiten unter Druck. Europa erwartet, dass er Reformen einleitet. Und er steht unter dem Druck der Eliten, die ja nach wie vor da sind, auch wenn ihre Vertreter abgewählt worden sind. Ihnen gehört zum Beispiel nach wie vor der Großteil der griechischen Medien. Und dann ist da noch der Druck des linken Flügels seiner Partei. Und doch erlebe ich zum ersten Mal überhaupt, dass eine Regierung einen starken Rückhalt der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung hat, ohne dass diese Mehrheit zu viel von der Regierung erwartet. Sie wäre auch mit kleineren Erfolgen zufrieden.
Das eröffnet die Chance, Griechenland zu dem modernen Land zu machen, das wir uns alle wünschen. Europa muss anerkennen, dass diese Regierung nicht die Fortsetzung einer vorherigen Regierung ist. Europa muss anerkennen, dass diese Regierung ein demokratisches Mandat hat und Europa muss sich fragen, ob es weiter auf eine Politik setzt, die in Griechenland ganz offensichtlich gescheitert ist
tagesschau.de: Was aber geschieht, wenn der linke Flügel gegen Tsipras aufbegehrt?
Pantelouris: Die drittstärkste Partei im griechischen Parlament ist die "Goldene Morgenröte", und hier handelt es sich um echte Nazis, nicht um Rechtsextreme. Wenn diese Regierung scheitert und es zu Neuwahlen kommt, dürften die Radikalen stark zulegen. Noch haben wir die einmalige Situation, dass in Umständen, die an Weimarer Verhältnisse erinnern, sich die Bevölkerung mehrheitlich hinter einen pragmatischen Premier stellt, dessen Vorschläge überhaupt nicht radikal sind. Daran sieht man eine große Begeisterung für die Demokratie und für Europa. Ein zweites Mal dürfte es diese Chance nicht geben.
Die Zeit der Demut ist vorbei
tagesschau.de: Welche Rolle spielen die Beziehungen zur deutschen Regierung in dieser Situation und die Kritik an Griechenland in den deutschen Medien?
Pantelouris: Auf beiden Seiten haben die Medien den Konflikt stark zugespitzt und zu einem Wettkampf darüber verbogen, wer gewinnt und sich durchsetzt. Medien finden Konfrontation eben spannender als Kooperation. Der griechische Finanzminister hat meiner Wahrnehmung nach kein böses Wort über den deutschen Finanzminister gesagt. Aber er steht für eine politische Alternative, die in Nord- und Mitteleuropa nicht auf Gegenliebe stößt.
Für die Griechen stehen die Deutschen natürlich als europäische Führungsmacht für den Kurs der EU gegenüber Griechenland. Und da spielt natürlich der Ton auch eine Rolle - etwa wenn die CSU fordert, der griechische Premier müsse mit Demut ins Kanzleramt gehen. Mir graust vor solchen Formulierungen. Diese Demut wird es auch nicht mehr geben. Beide Seiten sollten und werden sich hoffentlich weiter als Partner darüber unterhalten, was ihre europäische Idee ist und wie man mit dieser Idee die Krise vernünftig lösen kann. Darum geht es.
tagesschau.de: Ein umstrittener Punkt ist die Forderung der griechischen Regierung nach Entschädigung und Reparationen für die Zeit der Besatzung während des Zweiten Weltkrieges. Welche Rolle spielt das Ihrer Wahrnehmung nach in der griechischen Bevölkerung?
Pantelouris: Diese Zeit ist noch sehr präsent im Bewusstsein der Bevölkerung - aber auf der Basis eines immer besser gewordenen Verhältnisses zwischen Deutschen und Griechen. Wir reden von einer großartigen Versöhnung, der ich selber alles verdanke. Einer meiner deutschen Großväter war Nazi und Wehrmachtsoldat, einer meiner griechischen Großväter wurde von der Wehrmacht gefoltert. Ohne diese Versöhnung würde es mich nicht geben.
Ungeachtet dessen hat es immer die Forderung nach Reparationen und Entschädigung für die Besatzungszeit gegeben. Es ist nicht wahr, dass sie erst jetzt erhoben wurde. Deutschland hat seine Verpflichtungen nicht erfüllt und sich mit Tricks herausgewunden. Darüber muss man reden, aber man darf dies nicht mit der Debatte um Hilfsprogramme vermengen. Davor kann ich nur warnen, denn es hat nichts miteinander zu tun. Wir sollten diese Debatte ausgeruht und auf der Basis von Völkerfreundschaft tun. Wirtschaftliche Probleme mit der Forderung nach Reparationszahlungen zu lösen, ist Quatsch.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de