Nach Protesten in Tunis Tunesischer Regierungschef gibt auf
Nach den neuen schweren Protesten und Straßenschlachten mit mehreren Toten ist der Chef der tunesischen Übergangsregierung, Ghannouchi, zurückgetreten. Ghannouchi gehörte zu den Gefolgsleuten des gestürzten Präsidenten Ben Ali. Das Misstrauen gegen ihn war entsprechend groß. Neuer Regierungschef wird Ex-Minister Béji Caïd Essebsi. Das gab Übergangspräsident Fouad Mebazza bekannt.
Von Marc Dugge, ARD-Hörfunkstudio Westafrika
Es ist ein überraschender Rücktritt - nach gerade mal sechs schwierigen Wochen an der Spitze der Regierung. Wochen, in denen Mohammed Ghannouchi Krisenmanagement im Dauer-Einsatz betreiben musste. Um im Land wieder Ruhe und Ordnung herzustellen, die Wirtschaft zu stabilisieren, die Flüchtlingsbewegungen einzudämmen - und nebenbei auch noch eine wackelige Regierung zu führen.
Beobachter bescheinigten ihm Kompetenz, doch im Volk kam er nicht an. Schließlich war er ganze elf Jahre lang Ministerpräsident unter dem verhassten Zine El Abidine Ben Ali. In einem Fernsehinterview hatte er zuletzt betont, im Regime keine wichtige Rolle gespielt zu haben. Wörtlich sagte er: "Ich hatte Angst wie alle Tunesier."
Lange Schatten der Vergangenheit
Doch die Schatten der Vergangenheit waren letztlich zu lang: "Ich trete von meinem Posten zurück, aber nicht um mich aus der Verantwortung zu stehlen", sagte er nun. "Seit dem 14. Januar habe ich eine geeinte Mannschaft geführt, die sich gut ergänzt hat. Das sind Menschen, die ihr Familienleben für diese Regierung geopfert haben. Ohne sie hätten wir nichts erreicht."
Die Proteste vom Wochenende waren es, die ihn zum Rückzug bewegten. Die Tausenden Demonstranten, die in Tunis seinen Rücktritt forderten. "Ich werde kein Minister der Repression sein", sagte Ghannouchi. Er wolle keine Entscheidungen treffen, die Opfer kosten könnten.
Tunesien kommt nicht zur Ruhe
Und Opfer gab es schon: Drei Demonstranten kamen am Samstag ums Leben, viele wurden verletzt. Es waren die gewaltsamsten Kundgebungen seit dem Sturz von Ben Ali am 14. Januar. Demonstranten setzten Polizeiautos in Brand, warfen Schaufenster ein, plünderten Geschäfte, bewarfen Sicherheitskräfte mit Steinen. Die reagierten mit Tränengas. Mehr als 180 vor allem junge Demonstranten wurden festgenommen. Über dem Stadtzentrum kreisten wieder die Armeehubschrauber - eine Szenerie, die man eigentlich schon für Geschichte gehalten hatte. Die aber klar macht: Tunesien kommt noch nicht zur Ruhe. Und schon in fünf Monaten soll gewählt werden.
Ob der Rückzug von Ghannouchi die Demonstranten beschwichtigen kann, ist längst nicht sicher. Sie fordern, dass auch die restlichen elf Minister zurücktreten, dass das Parlament aufgelöst und eine neue Verfassung verabschiedet wird.
Flüchtlinge aus Libyen
Als wenn Tunesien nicht schon genug Probleme hätte, muss es sich mittlerweile auch noch mit einem Flüchtlingsdrama an seiner Ostgrenze beschäftigen. Immer mehr Menschen strömen aus dem benachbarten Libyen in den Süden Tunesiens. Ein Sprecher der Hilfsorganisation Roter Halbmond sprach von einer humanitären Krise. Allein gestern sollen demnach 10.000 Menschen über die Grenze gelangt sein, vor allem Ägypter, die in Libyen gearbeitet haben. Es gibt keine Unterkünfte mehr, viele Menschen müssen unter freiem Himmel schlafen. Wer auch immer auf Ministerpräsident Ghannouchi folgen wird: Er muss viel Organisationtalent haben. Und starke Nerven.
Ghannouchi wurde am 18. August 1941 in der tunesischen Küstenstadt Sousse geboren. Er studierte Wirtschaftswissenschaften und absolvierte einen Teil seiner Ausbildung im Finanzministerium der damaligen Kolonialmacht Frankreich. Bereits als Ben Ali 1987 zum Ministerpräsidenten ernannt wurde, arbeitete Ghannouchi in dessen Regierungsteam. Als Ben Ali anschließend Präsident Bourguiba für amtsunfähig erklären ließ und die Macht übernahm, rückte Ghannouchi ins Kabinett auf - als Finanzminister und später als Minister für internationale Zusammenarbeit und Investitionen. Im November 1999 berief Ben Ali Ghannouchi zum Ministerpräsidenten.
Während der Proteste der vergangenen Tage gab Ghannouchi als Regierungschef die Entlassung des Innenministers bekannt und verteidigte in Interviews das teils brutale Vorgehen der Staatsmacht. Den Sturz von Präsident Ben Ali überstand er vorläufig. Als Reaktion auf die anhaltenden Proteste gegen die bisherige Staatsmacht stellte er eine Übergangsregierung zusammen, der auch mehrere Oppositionspolitiker angehören.