Nach Sturz der tschechischen Regierung Droht der EU der Stillstand?
Der Sturz der tschechischen Regierung hat die Europäische Union geschockt. Schließlich ist Tschechiens Premier Topolanek der derzeitige Ratsvorsitzende. Der versuchte zu beruhigen: Der EU-Vorsitz sei nicht gefährdet. Doch seine Machtlosigkeit könnte EU-Reformprojekte lahmlegen.
Von Christopher Plass, HR-Hörfunkstudio Brüssel
Die EU bewahrt die Fassung. Von einer Katastrophe wollte in Brüssel gestern Abend niemand sprechen. Erste spontane Reaktionen auf das Misstrauensvotum gegen die tschechische Regierung klangen durchaus erschrocken. Aber die offizielle Stellungnahme der EU-Kommission hörte sich dann doch sachlich an. Es sei schließlich ein Land, das den EU-Vorsitz innehabe, nicht eine bestimmte Regierung, hieß es darin. Die EU-Kommission vertraue voll darauf, dass die Tschechische Republik ihre Präsidentschaft weiter wirksam ausüben könne und die Funktionsfähigkeit voll gewährleistet sei.
Topolanek soll EU-Vorsitz bis Juni behalten
In Brüssel rechnete man damit, dass Topolanek kommissarisch weiterregiert und den EU-Vorsitz Ende Juni planmäßig zu Ende bringen kann. Der tschechische Staatspräsident Vaclav Klaus hat dies in der Hand. Er kann sich Zeit lassen bis zur Bildung einer neuen Regierung.
Ministerpräsident Mirek Topolanek liefe allerdings als lahme Ente durch die verbleibenden Monate seiner EU-Präsidentschaft. Eine lahme Ente, die auf ungewöhnlich vielen Gipfeltreffen der EU noch eine überzeugende Figur machen müsste. Anfang April empfängt er in Prag US-Präsident Barack Obama. Im Mai wollen die Tschechen im Namen der EU eine neue Partnerschaft mit östlichen Nachbarn ins Leben rufen. Später wird es noch einen EU-China-Gipfel geben. Immer mit einem Ratspräsidenten auf Abruf.
Nun managen vor allem Beamte und Spitzendiplomaten eine solche EU-Präsidentschaft. Sie bleiben im Amt. Das operative Geschäft, so wird in Brüssel versichert, sei nicht gefährdet. Italien wechselte 1996 auch einmal die Regierungsspitze im Verlauf einer EU-Präsidentschaft, ohne dass das den Europa-Auftritt besonders beeinträchtigte. Allerdings galt der tschechische EU-Vorsitz bislang ohnehin nicht als übermäßig stark und durchsetzungsfähig. Eine bereits gestürzte Regierung wird bei den in Brüssel üblichen politischen Kungeleien einen noch schwereren Stand haben.
Verzögerung beim EU-Reformvertrag befürchtet
Politiker aus dem Europaparlament kritisierten das Vorgehen der tschechischen Opposition. Der Fraktionsführer der Konservativen und Christdemokraten, der Franzose Joseph Daul, nannte es "nicht verantwortlich", Europa in Krisenzeiten einer starken Führung zu berauben. Der liberale Fraktionschef Graham Watson teilte mit, nun werde sich wohl auch die Ratifizierung des EU-Reformvertrages, des sogenannten Lissabon-Vertrages, weiter verzögern.
Und das ist die Hauptsorge in Brüssel: Tschechien schiebt die Ratifizierung des Lissabon-Vertrages ohnehin vor sich her. Das Lager der Vertragskritiker, dem auch Staatspräsident Klaus angehört, könnte nun Aufwind bekommen. Pikant dabei: In Irland, wo eine Volksabstimmung über den Vertrag 2008 scheiterte, scheint sich die öffentliche Meinung nun auf ein "Ja" hinzubewegen. Tschechien wird nun zum größten Wackelkandidaten.
Im Europaparlament sollen Vertreter des tschechischen EU-Vorsitzes heute eigentlich die Ergebnisse des EU-Gipfels vom vergangenen Freitag erläutern. Jetzt wird der EU-Vorsitz ganz andere Fragen beantworten müssen.