Interview zur Europawahl Guttenberg, ein Modell für Brüssel?
Die EU-Wahl wirft viele Fragen auf: Wie kann das Vertrauen der Bürger in die EU wieder gestärkt werden, warum haben die Sozialdemokraten EU-weit verloren und hat die Union nun das Recht, den EU-Kommissar zu bestimmen? Antworten gibt EU-Experte Wessels im Gespräch mit tagesschau.de.
tagesschau.de: Weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten haben abgestimmt. Haben die EU-Gremien eine ausreichende demokratische Legitimation?
Wolfgang Wessels: Niedrige Wahlbeteiligungen gibt es in einer Reihe von alteingesessenen Demokratien. Wenn sie etwa die Abstimmungen zwischen den Präsidentschaftswahlen in den USA nehmen, dann haben sie manchmal auch nur eine Beteiligung von 15 bis 40 Prozent. Selbst in der alten Demokratie Schweiz liegt die Wahlbeteiligung bei wichtigen Referenden oft weit unterhalb von 50 Prozent.
tagesschau.de: Wie kann das Vertrauen der Bürger in die EU gestärkt werden?
Wessels: Wir müssen jetzt schauen, wie die Wahl des EU-Kommissionspräsidenten abläuft. Es war doch einer der großen Mängel, dass der Wähler nicht wusste, für welche Personen mit Verantwortung in Brüssel er abstimmt. Hier und da erwähnten die Christdemokraten, dass sie EU-Kommissionspräsident Barroso unterstützen. Aber er war auf keinem Wahlplakat zu sehen und die Sozialdemokraten haben nicht gegen ihn Wahlkampf geführt. Wenn die Entscheidung nur hinter verschlossenen Türen gefällt wird und man den Eindruck hat, da wird geklüngelt, verstärkt das den Missmut der Bürger. Ebenso muss bei der Wahl der Kommissionsmitglieder eine gewisse Offenheit gewährleistet werden.
Wolfgang Wessels ist Professor für Politikwissenschaften an der Universität zu Köln. Der 1948 geborene Wissenschaftler beschäftigt sich hauptsächlich dem politischen System der EU und dessen Weiterentwicklung. Wessels war als Experte und Sachverständiger im NRW-Landtag, im EU-Ausschuss des Bundestages sowie im EU-Parlament tätig. Wessels war Mitglied von Expertengruppen zur Revision des Maastricht-Vertrages und zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU.
tagesschau.de: Eines der augenfälligsten Ergebnisse der Europawahl ist, dass die Sozialdemokraten EU-weit verloren. Woran liegt das?
Wessels: Die Wirtschaftskrise führt den Wähler offenbar nicht zu den Sozialdemokraten. Das sehen wir in der Bundesrepublik wie in anderen Staaten. Dazu kommen weitere Probleme: In Frankreich ist es der Streit innerhalb der Sozialisten und es haben andere Parteien auf dem linken Flügel kandidiert. Deutlich ist es auch bei der regierenden Labour Partei in Großbritannien, auf die sich der Spesenskandal offenbar stärker auswirkt als auf die Oppositionspartei, die ja auch davon betroffen ist. Hinzu kommen die Wirtschaftslage und die Schwäche der Labour-Regierung.
tagesschau.de: Haben CDU und CSU aufgrund ihres deutlichen Vorsprungs in Deutschland ein Recht darauf, den Posten des EU-Kommissars zu besetzen?
Wessels: Von Recht würde ich nicht sprechen: Wir wissen ja, dass in den letzten Jahren sehr häufig Kandidaten von kleineren Parteien aufgrund von Koalitionsabsprachen nach Brüssel geschickt wurden. Es war immer Teil eines politischen Deals. Insofern würde ich den Begriff Recht, der ja hier und da eingebracht wird, nicht so hoch hängen und sagen, die Christdemokraten müssten das entscheiden. Es ist wichtig, keine blasse, zweitrangige Figur hinzuschicken sondern jemanden, der gut auftritt und der durchaus als Persönlichkeit verspricht zu wirken.
tagesschau.de: Derzeit sind die Namen Schulz von der SPD und Merz von der CDU im Gespräch für den Posten. Was halten sie von beiden?
Wessels: Idealkandidaten wären das für mich nicht, weil beide aus unterschiedlichen Gründen in der nationalen Politik nicht mehr oder schon die Rolle gespielt haben, die man sonst bei Kommissionsmitgliedern erwarten könnte. Herr Schulz hat lange Erfahrung im EU-Parlament in Brüssel. Daher hätte er einige ganz gute Voraussetzungen. Herr Merz hat sie auch, er kommt ja ursprünglich auch aus dem EU-Parlament.
Aber da würde man auf den ersten Blick sagen, es ist eine Kompensation für einen Machtverlust in Berlin. Bei beiden ist zu fragen, ob sie in Brüssel eine aktive Rolle spielen könnten. Wenn man sieht, dass aus anderen Mitgliedsstaaten wirklich erfahrene Politiker, manchmal Ministerpräsidenten, Außen- und Finanzminister in die EU-Kommission kommen, dann wäre der Ausgangspunkt nicht gleichwertig. Da würde die Bundesrepublik der Kommission nicht die Aufmerksamkeit widmen wie andere Mitgliedsstaaten.
tagesschau.de: Wüssten Sie einen geeigneten Kandidaten?
Wessels: Von der Person her kann ich es zu wenig einschätzen, aber als Modellfall wäre Wirtschaftsminister zu Guttenberg ein gutes Beispiel: Einen jüngeren, aktiven Politiker, durchaus mit einigen Erfolgen und Erfahrung im Regierungsamt. So eine Person würde ich interessant finden. Bei ihm würde man sehen, dass es noch nicht das Ende seiner Karriere wäre. Aber ich vermute, das wird so schnell nicht gehen. Die meisten Angehörigen der Regierungsparteien bleiben lieber in Berlin.
Die Fragen stellte Silvia Stöber, tagesschau.de