Swetlana Tichanowskaja, Veronika Zepkalo und andere Unterstützerinnen der belarusischen Demokratiebewegung in Brüssel.
Interview

Belarusische Oppositionsführerin "Die Statements müssen mutiger sein"

Stand: 16.12.2020 19:17 Uhr

Die belarusische Oppositionsführerin Tichanowskaja fordert im Interview mit der ARD schärfere EU-Sanktionen gegen Lukaschenkos Machtapparat: "Wir sind ein Nachbarland und die Inhaftierten leiden", betont sie.

ARD: Wie geht es Ihnen heute?

Swetlana Tichanowskaja: Ich habe gemischte Gefühle. Klar, auf der einen Seite freue ich mich total, dass das belarusische Volk mit dem Sacharow-Preis geehrt wurde. Dass die ganze Welt Bescheid weiß über Belarus und seinen Kampf. Aber auf der anderen Seite bin ich immer etwas depressiv mit Blick auf die Lage in Belarus. Ich kann da nicht entspannen. Ich bin immer unter Spannung. Ja, wir haben jetzt den Preis, aber viele Leute konnten nicht zur Verleihung kommen. Mein Mann, Nikolai Statkewitsch und Maria Kolesnikova sind beide im Gefängnis. Das zieht mich immer ein bisschen runter.

Swetlana Tichanowskaja, ehemalige Kandidatin für die Präsidentschaftswahlen in Belarus, spricht bei einer Pressekonferenz.
Zur Person

Swetlana Tichanowskaja trat als Kandidatin in den belarusischen Präsidentschaftswahlkampf ein, nachdem ihr Ehemann, der oppositionelle Blogger Sergej Tichanowskij, inhaftiert worden war. Bei und nach der Abstimmung, bei der es zu Wahlfälschungen kam, erhielt sie enormen Zuspruch seitens der belarusischen Zivilgesellschaft, wurde aber von Langzeit-Machthaber Alexander Lukaschenko außer Landes gedrängt. Sie macht von Litauen aus Staats- und Regierungschefs auf die belarusische Demokratiebewegung aufmerksam.

ARD: Tut die EU genug, um der belarusischen Opposition zu helfen?

Tichanowskaja: Im Moment sind wir für jedes Hilfssignal an Belarus dankbar. Wir sind dankbar, dass sie [die EU, Anmerkung der Redaktion] Lukaschenko nicht als legitimen Präsidenten anerkannt hat und den Kampf der belarusischen Gesellschaft unterstützt, dass Sanktionen auf den Weg gebracht wurden.

Allerdings ist die Sanktionsliste etwas seltsam: Weil 2010 zum Beispiel - nach den Protesten - Hunderte Menschen im Gefängnis saßen und zeitweise fast 200 Namen auf der Sanktionsliste standen. In den vergangenen Monaten gab es mehrere Tausend Festnahmen - und bislang stehen 59 Individuen auf der EU-Sanktionsliste, ein weiteres Paket mit 29 Individuen und 7 Entitäten wird zusätzlich auf den Weg gebracht. Das ist wirklich seltsam. Denn die Gräueltaten und der Grad der Gewalt sind nicht vergleichbar.

Die europäischen Länder sind dieses Jahr eher langsam. Ich weiß nicht, vielleicht wegen der Corona-Pandemie? Und es gibt so viele Probleme auf der ganzen Welt. Aber schauen Sie, wir sind ein Nachbarland und die Inhaftierten leiden wirklich. Sie können sich die Bedingungen in den Gefängnissen überhaupt nicht vorstellen. Und diese Menschen sind unschuldig. Davor können Sie die Augen nicht verschließen. Sie können bei Ihren Entscheidungen nicht langsam sein. Ihre Statements müssen stärker und mutiger sein in eben dieser Sache. Sie müssen Verantwortung übernehmen. 

Swetlana Tichanowskaja hält ein Bild des belarussischen Politikers Nikolaj Statkewitsch in die Höhe, während sie eine Rede anlässlich der Verleihung des Sacharow-Preises im Europäischen Parlament hält.

Swetlana Tichanowskaja hält ein Bild des belarussischen Politikers Nikolaj Statkewitsch in die Höhe, während sie eine Rede anlässlich der Verleihung des Sacharow-Preises im Europäischen Parlament hält.

"Es stehen viel zu wenige auf der Sanktionsliste"

ARD: Hatten die Sanktionen bisher einen Effekt? Und sollte die EU die Sanktionsliste erweitern?

Tichanowskaja: Die Sanktionen, die eingeführt wurden, haben einen symbolischen Wert. Es stehen viel zu wenige auf der Liste - und die, die jetzt darauf stehen, standen da schon mehrere Male. Wir pochen darauf, dass auch Menschen von niederen Rängen im Machtapparat auf die Liste kommen. Denn die mit höheren Rängen können ja schon jetzt nirgendwo hinfahren.

Aber die, die sich Paris angucken oder die in Polen einkaufen wollen, diese Gruppen - das wäre effizient: Direktoren von Schulen, wo Wahlfälschung stattgefunden hat oder auch gewöhnliche Soldaten oder Polizisten, die Menschen verprügelt haben. Sie müssen auch auf die Sanktionsliste gesetzt werden.

ARD: Welchen Appell richten Sie an die EU?

Tichanowskaja: Schauen Sie sich nur unsere Bürgerinnen und Bürger an und nehmen Sie sich ein Beispiel, wenn Sie Ihre Entscheidungen treffen; wenn Sie Ihre Statements über Belarus abgeben. Denken Sie nur an uns - nicht als Nation, sondern an jeden, der im Gefängnis sitzt, an all die, die leiden. Sie sind diejenigen, die dort Schmerzen erleiden. Und dieser Schmerz beeinflusst den Grad ihres Mutes.

Ich will den europäischen Ländern, der Europäischen Union dafür danken, was sie schon getan habe und was sie in Zukunft für Belarus tun werden.

"Wille des belarusischen Volks wird sich nicht ändern"

ARD: Haben Sie Angst, dass in Zukunft das Interesse der internationalen Gemeinschaft an der Opposition und ihrem Anliegen nachlassen wird?

Tichanowskaja: Ich weiß, der Wille des belarusischen Volks wird sich nicht ändern. Der Wille für Wandel ist der Wille eines neuen demokratischen Landes. Und wir werden gewinnen - mit Europa, mit anderen Ländern oder ohne. Aber welchen Preis wir für den Sieg zahlen, hängt von der internationalen Gemeinschaft ab. Es liegt in ihrer Verantwortung, ob die Menschen in Belarus einen nicht ganz so hohen Preis für Freiheit und ein demokratisches Land zahlen.

Das Gespräch führte Merle Tilk, ARD-Studio Brüssel.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 16. Dezember 2020 um 22:30 Uhr.