Schweiz Im Land der Bunker
Nirgendwo auf der Welt gibt es so viele Bunker pro Einwohner wie in der Schweiz. Auch viele Privathäuser verfügen über eigene Schutzräume. Lange nutzten viele sie als Kartoffelkeller - nun wandelt sich die Wahrnehmung.
Im Haus der Familie Zurkinden in der Nähe von Fribourg kocht Lilian Zurkinden Kaffee und spielt mit dem Pudel Merlin, ihr Sohn Francois zeigt derweil den Schutzbunker im Keller des modernen Zweifamilienhauses: "Hier vor uns sehen wir die so genannte Panzertür, die hat circa ein Gewicht von einer Tonne", erklärt er. "Während der Bauphase wird sie montiert, das ist aber erst nur ein Stahlrahmen, und dann mit Beton ausgegossen."
An der Tür befinden sich nicht nur zwei schwere Hebel, mit denen die Panzertür hermetisch abgeriegelt reden kann, sondern auch ein riesiger gelber Schraubenschlüssel und eine Spindel - mit den Werkzeugen soll man die geschlossene Panzertür Zentimeter für Zentimeter aufdrehen können, erklärt Zurkinden. Für den Fall, dass nach einem Angriff Trümmerteile den Ausgang versperren.
Der Schutzraum der Familie Zurkinden ist etwa 14 Quadratmeter groß, 13 Personen sollen hier im Ernstfall bis zu zwei Wochen ausharren können. Das Schweizer Gesetz schreibt für jeden Schutzraum neben mehrstöckigen Feldbetten unter anderem auch eine Trockentoilette und ein Ventilationsaggregat vor.
"Polyvalente" Nutzung ist erlaubt
Schutzbunker wie den der Familie Zurkinden gibt es in fast allen Schweizer Häusern, die nach dem Zweiten Weltkrieg gebaut wurden. Früher war ihr Bau Pflicht, mochte das Häuschen auch noch so klein sein. Die Räume sollen der Bevölkerung Schutz bieten - vor konventionellen Waffen, aber auch ABC-Kampfstoffen. Landesweit gibt es mehr als neun Millionen Schutzplätze - so viele Einwohner hat die Schweiz gar nicht.
Heute müssen Privatleute nur noch in größeren Neubauten Bunker einplanen - es sei denn, dass es in ihrer Region zu wenig Bunkerplätze gibt. Spezielle Firmen kontrollieren regelmäßig, ob die Schutzräume noch funktionstüchtig sind, erklärt Christoph Flury, Vizedirektor des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz: Wer keinen Schutzraum bauen muss, zahlt stattdessen einen Ersatzbetrag pro Schutzplatz, mit dem auch die Erneuerung privater Schutzräume finanziert wird.
Dass die Schweizer im Alltag ihre Schutzräume häufig für die Lagerung von Wein, Marmelade oder Skiausrüstungen nutzen, sei durchaus erwünscht, sagt Flury: "Vorschrift ist einfach, dass diese Keller in fünf Tagen ausgeräumt und vorbereitet werden können - mit diesen Liegestellen und allem, was man sonst noch braucht."
In Friedenszeiten nutzen viele Schweizer den Schutzkeller als Lagerraum - laut Vorschrift kein Problem, wenn er binnen fünf Tagen ausräumbar ist.
"Untergrund als normales Habitat"
Kindheitserinnerungen an den Bunker als Stauraum hat auch die Historikerin Silvia Berger Ziauddin von der Universität Bern: Sie erinnere sich noch gut daran, wie ihre Mutter sie in den 1980er-Jahren regelmäßig in den Bunker im Elternhaus geschickt habe, um von dort Marmelade oder Kartoffeln zu holen. Dabei habe sie sich oft gefragt, wie das wäre, wenn man sich bei einem Atomkrieg in den Schutzraum zurückziehen müsste.
Es komme nicht von ungefähr, dass ihr Heimatland bis heute an den Bunkern festhalte, sagt sie: "Diese Schutzräume wurden auch von Anbeginn verknüpft mit Erfahrungen und Wahrnehmungsmustern, die man im Zweiten Weltkrieg und auch danach entwickelt hat: Mit diesem Selbstbild des Sonderfalls Schweiz."
Auch das Réduit, eine Festungsanlage der Schweizer Armee in den Alpen, sei Teil dieses Mythos, der dazu geführt habe, dass seit den 1950er-Jahren Schutzräume für die Bürger propagiert worden seien. Hinzu komme, dass für viele Schweizer auch der technologische Gang in den Untergrund etwas völlig Natürliches sei - nicht zuletzt auch aufgrund des ausgeprägten zivilen Tunnelbaus, erklärt Berger Ziauddin. "Eine Normalisierung des Untergrunds als normales Habitat", die "von der Tradition her, von den Bildern her" anders gewesen sei als in anderen Ländern.
"Ich hoffe, ich brauche es nicht"
Trotzdem wurde in den vergangenen Jahrzehnten auch in der Schweiz immer wieder über die Sinnhaftigkeit der Bunker diskutiert. Nicht nur weil ihr Bau und Unterhalt teuer ist, sondern auch weil sich viele Menschen die Frage stellten: Was nützt es uns, wenn wir einen Atomkrieg im Bunker überleben, es danach aber keine Welt mehr gibt, in der wir leben wollen?
Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine sehen viele Schweizer ihre Bunker in den heimischen Kellern jedoch wieder mit anderen Augen. Auch die 87-jährige Lilian Zurkinden ist mittlerweile wieder ziemlich froh, dass sie sich im schlimmsten Fall in den Schutzraum zurückziehen könnte: "Ich hoffe, ich brauche es nicht. Aber wenn etwas ist, dann weiß ich, dass da unten etwas ist, wo man sich verstecken kann."