Antisemitismus in der Schweiz Ein Hassverbrechen als Weckruf
Nach dem Messerangriff auf einen Juden in Zürich merkt man auch in der Schweiz, dass man ein Problem mit Antisemitismus hat. Die Politik will nun eilig einen Aktionsplan umsetzen - reichlich spät, finden viele.
Anna steht in der der Warteschlange der Ma'adan Bakery, einer koscheren Bäckerei im Zürcher Stadtteil Wiedikon. Erst vor vier Jahren ist sie aus Jerusalem hierher gezogen. An einen sicheren Ort, dachte sie - bis vor ein paar Tagen, bis zu der Messerattacke auf einen orthodoxen Juden, auf offener Straße, mitten in Zürich.
"Ich habe hier noch nie so eine Angst verspürt", sagt Anna. "Wir fühlten uns hier immer geschützt, aber jetzt begleite ich meine Kinder zur Schule. Ich schließe mich zu Hause ein. Es ist beängstigend."
Auch Bäckereiinhaber Naftali Beck ist schockiert. Wie der 50-jährige Mann, der nur wenige hundert Meter von der Bäckerei entfernt niedergestochen wurde, trägt Beck die für orthodoxe Juden typische schwarze Kleidung. "Ich kenne ihn persönlich, er ist Kunde bei uns." Es sei eine Katastrophe.
Nur scheinbar friedlich?
Nur mit Glück hat der Mann den Messerangriff überlebt. "Ich bin hier, um Juden zu töten", soll der Täter gerufen haben, ein 15-jähriger Schweizer mit tunesischen Wurzeln. In einem Video bekannte er sich als Anhänger der Terrororganisation IS.
Ein Verbrechen aus Judenhass, ein Terrorangriff, so etwas kannte Beck bislang nur aus anderen Ländern, aber nicht in der Schweiz. "Ja, es gibt hier und da Vorfälle, man ruft uns nach oder so. Aber ich bin hier aufgewachsen, und eigentlich leben wir hier sehr, sehr friedlich", sagt er.
Aber eben nur scheinbar friedlich. Die antisemitische Messerattacke in Zürich sei für ihn keine Überraschung gewesen, sagt etwa Ronni Guggenheim. Zusammen mit anderen hat er bereits im vergangenen Oktober die Organisation Yellow Umbrella gegründet, die seither mit gelben Regenschirmen immer wieder gegen Antisemitismus protestiert.
Das Gefühl der Unsicherheit habe sehr bald nach dem Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober begonnen. Es habe sehr gewalttätige Demonstrationen gegeben - "laut schreiend, überall Hasssymbole, Graffitis, Hakenkreuze in den Zürcher Straßen".
Die Schweiz hat ein Problem
Nun stehen auf Zürichs Straßen Polizisten vor jüdischen Schulen und Synagogen. Insgesamt 17 jüdische Einrichtungen werden rund um die Uhr bewacht. Der 15-jährige islamistische Attentäter sitzt in U-Haft. Und langsam wird sich die Schweiz bewusst, dass sie ein Problem hat.
"Der Hass gegen unsere jüdischen Mitbürgerinnen, Nachbarn und Freunde und der Rassismus allgemein trifft den Kern unserer Gesellschaft, den Respekt, die Vielfalt, die Offenheit. Und es gefährdet den Zusammenhalt unseres Landes", sagte Innenministerin Elisabeth Baume-Schneider von der Sozialdemokratischen Partei im Schweizer Parlament.
Polizisten stehen zum Schutz vor der Synagoge in Zürich.
Eine Zäsur
Das Parlament forderte wenige Tage nach dem Zürcher Messerangriff mit großer Mehrheit eine "Strategie und einen Aktionsplan gegen Rassismus und Antisemitismus". Endlich, sagt Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Israelitischen Gemeindebundes, des Dachverbands jüdischer Organisationen in der Schweiz. Für ihn bedeutet die Messerattacke in Zürich eine Zäsur:
Eine solche Strategie, einen solchen Plan fordern wir eigentlich schon seit zwei Jahren. Am Anfang war der Widerstand dagegen groß. Nun ist er gebrochen. Nach dieser Attacke. Bis zum 7. Oktober wäre es vielleicht kaum möglich gewesen, dass wir ein Verbot von Nazisymbolen durchbringen in der Schweiz. Heute stehen wir kurz davor. Leider hat es diese Ereignisse gebraucht, dass man in der Schweiz aufgewacht ist. Aber es ist meistens so in der Schweiz. Es braucht solche Weckrufe.
"Antisemitismus gibt es überall in der Schweiz"
Wie sich der jugendliche Attentäter radikalisierte, ist nun Gegenstand der Ermittlungen. Klar ist, dass er im Netz islamistisch motivierten Judenhass verbreitete. Antisemitismus gebe es aber überall in der Schweiz, betont Kreutner. Im Februar etwa sorgte in Davos ein Skiverleih für Schlagzeilen - mit einem öffentlichen Aushang, dass man an Juden keine Ausrüstung vermiete.
Die Tat in Zürich sei islamistisch motiviert gewesen, aber es sei klar: "Antisemitismus in der Schweiz manifestiert sich in den letzten Jahrzehnten in allen Milieus: rechts, links, islamistisch." Und deshalb sei der Antisemitismus so unberechenbar.