Verstoß gegen Menschenrechtskonvention EGMR: Russlands "Agenten"-Gesetz willkürlich
In Russland gilt das Gesetz über "ausländische Agenten", auf dessen Grundlage Organisationen teils hohe Strafen bekommen. Nun hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dies als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention gewertet.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sieht im russischen Gesetz über "ausländische Agenten" einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Das Gesetz, das seit 2012 in Russland gilt und 2020 erweitert wurde, öffne staatlicher Willkür Tür und Tor, so das Urteil. Es stelle eine Verletzung der Meinungsfreiheit sowie der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit dar, die von der Europäische Menschenrechtskonvention garantiert sind.
Der EGMR begründete sein einstimmig gefälltes Urteil mit den "außergewöhnlichen" Auflagen für NGOs, die von den russischen Behörden als "ausländische Agenten" eingestuft werden. Nicht-Regierungs-Organisationen mit strengen Meldeauflagen und Geldbußen zu überziehen - das sei "in einer demokratischen Gesellschaft nicht nötig".
Über 70 russische NGOs hatten sich beschwert
Der EGMR fällte sein Urteil aufgrund von 2013 bis 2018 eingereichten Beschwerden gegen Maßnahmen gegen 73 russische NGOs, die sich unter anderem für Bürgerrechte, die Umwelt und Bildung einsetzten. Der Vorwurf: staatliche Repressionen.
Unter ihnen war auch die Menschenrechtsorganisation "Memorial", deren Auflösung ein Moskauer Gericht Ende des vergangenen Jahres beschlossen hatte. Die Menschenrechtsorganisation setzt sich seit mehr als 30 Jahren für politisch Verfolgte und die Aufarbeitung der Stalin-Verbrechen ein.
Dabei war der Fall "Memorial" kein Einzelfall: Auf der Grundlage des Gesetzes werden Nicht-Regierungs-Organisationen seit Jahren mit schweren Sanktionen und hohen Strafen belegt oder ganz aufgelöst. Betroffen waren neben "Memorial" auch andere Organisationen: Manche waren von russischen Gerichten aufgelöst, andere durch hohe Geldstrafen zur Auflösung gezwungen worden.
Russland hält sich nicht mehr an EGMR-Urteile
Der EGMR hatte Russland schon im Dezember dazu aufgerufen, die Auflösung von Memorial zurückzunehmen. Nun verurteilte er den russischen Staat dazu, den Beschwerdeführern insgesamt 1,02 Millionen Euro Schadensersatz zu zahlen und ihnen knapp 119.000 Euro Prozesskosten zu erstatten.
Dass das Geld bei den Organisationen ankommt, ist unwahrscheinlich: Russland ist im März aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ausgetreten. Obwohl sich das Land trotzdem noch bis zum 26. September an die Urteile aus Straßburg halten müsste, tut es das nicht. Seit dem vergangenen Samstag auch ganz offiziell: Ein neues Gesetz bestimmt ausdrücklich, dass Urteile des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs nicht mehr umgesetzt werden.
Der EGMR ist der juristische Arm des Europarats, aus dem Russland wegen seines Angriffskriegs in der Ukraine ausscheiden musste. Moskau hatte seinen Austritt nach 26 Jahren Mitgliedschaft bereits Mitte März bekanntgegeben und war so einem Beschluss der übrigen Mitgliedstaaten zuvorgekommen.
Mit Informationen von Max Bauer, ARD-Rechtsredaktion