Urteil gegen Menschenrechtler Orlow "Wir sollen verstehen, was uns allen droht"
Zwei Jahre und sechs Monate muss der russische Menschenrechtler Orlow in Haft. In seinem Schlusswort erinnert er an die Unbeherrschbarkeit der Geschichte. Seine Unterstützer sehen in dem Urteil eine Botschaft.
Die Gerichtsdiener sind vermummt, sie verstecken ihr Gesicht hinter schwarzen Masken, einer von ihnen trägt dazu eine verspiegelte dunkle Brille. Das ist selbst für russische Prozesse ungewöhnlich - offenbar wollen die Männer nicht erkannt werden.
Der Saal ist bis auf den letzten Platz besetzt. Oleg Orlow, Mitbegründer der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten und in Russland mittlerweile verbotenen Menschenrechtsorganisation Memorial, sitzt neben seiner Anwältin und lächelt in die Kameras.
Heute ist Urteilsverkündung, diesmal hat er den Kafka nicht dabei. Während der Verhandlungstage hatte er demonstrativ in einer dicken Ausgabe von Kafkas "Prozess" gelesen. Die gepackte Reisetasche steht neben seinem Stuhl.
Oleg Orlow mit seiner Anwältin im Gerichtssaal. In einem ersten Urteil in dieser Sache war er zu einer Geldstrafe von umgerechnet etwa 3.000 Euro verurteilt worden. Der Staatsanwaltschaft reichte das nicht, das Verfahren wurde erneut aufgerollt.
Eine Wand aus Botschaftern
Freunde und Unterstützerinnen sind da, Orlows Ehefrau, internationale Medien. Und Botschafter und Botschafterinnen aus vielen Ländern Europas und der Welt, von Neuseeland bis Portugal. Der EU-Botschafter ist gekommen, auch Alexander Graf Lambsdorff, der Vertreter Deutschlands.
Sie alle waren auch gestern schon da, am Tag, als Staatsanwältin und Verteidigerin ihre Plädoyers hielten. Sie sitzen direkt gegenüber der Richterin, wie eine Wand aus dunklen Anzügen und Kostümen müssen die Diplomaten aus ihrer Perspektive wirken.
Zwei Jahre und elf Monate Haft forderte die Staatsanwaltschaft gestern, wegen Diskreditierung der Armee: 2022 hatte Orlow in einem Artikel Russlands Staatsführung und den Krieg gegen die Ukraine scharf kritisiert. In einem ersten Urteil in dieser Sache war Orlow zu einer Geldstrafe von umgerechnet etwa 3.000 Euro verurteilt worden. Der Staatsanwaltschaft reichte das nicht, das Verfahren wurde erneut aufgerollt.
Immer wieder zitierte die Staatsanwältin in ihrer Rede gestern die Überschrift von Orlows Artikels: "Sie wollten den Faschismus, und sie haben ihn bekommen." Der Autor, sagte sie, schüre mit seinen Worten Hass gegen das eigene Land.
Erinnerung an die Geschichte
Später, als Oleg Orlow die Gelegenheit zu einem letzten Wort bekam, saß sie mit verschränkten Armen und unbewegtem Gesicht vor ihm - es war nicht zu erkennen, ob seine Worte sie berühren, auch die Richterin ließ sich nichts anmerken.
Orlow wandte sich in seinem letzten Wort direkt an die beiden, blickte sie an, fragte sie, ob sie sich etwa nicht fürchteten angesichts der Entwicklung. Ob sie wollten, dass ihre Kinder und Enkel in einer Anti-Utopie aufwüchsen? Und dann eine Frage, die man als Mahnung, aber auch als Drohung verstehen konnte:
"Denken Sie nie darüber nach, dass die Walze der Repression früher oder später auch diejenigen überrollt, die sie angestoßen haben und weiterschieben? So ist es doch häufig gewesen in der Geschichte."
Orlows Unterstützer applaudieren
Orlow spielt an auf die Stalinschen "Säuberungen", denen selbst ehemalige Stalin-Vertraute zum Opfer fielen. Es ist die Epoche der russischen und sowjetischen Geschichte, in der er, der sich sein Leben lang mit Menschenrechten beschäftigt, sich bestens auskennt.
Und er verweist auf die deutsche Nachkriegszeit: Nach der Niederlage der Nationalsozialisten, so Orlow, seien die einstigen Vollstrecker der Nazi-Gesetzgebung doch selbst verurteilt worden.
Richterin und Staatsanwältin saßen unbewegt. Als Orlow seinen Vortrag mit den Worten "Ich bereue nichts" beendete, rief jemand laut "Bravo". Seine Unterstützer im Saal applaudierten, die Gerichtsdiener mahnten zur Ruhe. Sofort danach verschob die Richterin das Urteil überraschend um einen Tag.
Schnell verlesenes Urteil
Heute, zur Urteilsverkündung, sind die Diplomaten wieder da und, so scheint es, noch mehr Journalistinnen und Journalisten als gestern. Richterin Astachowa verliest das Urteil schnell und ohne große Vorrede - zwei Jahre und sechs Monate Haft. Sie bleibt damit fünf Monate unter der Forderung der Staatsanwaltschaft. Das Urteil tritt sofort in Kraft.
Vor dutzenden laufender Kameras nehmen die beiden vermummten Gerichtsdiener Orlow in ihre Mitte, legen ihm Handschellen an, führen ihn in den vergitterten Glaskäfig des Gerichtssaals.
Von dort gibt man ihm Gelegenheit, noch ein paar Worte mit seiner Frau Tatjana zu wechseln: "Du hast es mir versprochen", sagt er durch die Scheibe. "Ja", antwortet sie - "ich bleibe stark". Orlow ist siebzig Jahre alt.
Die Ehefrau von Menschenrechtler Oleg Orlow, Tatjana Kasatkina, vor dem Gerichtsgebäude.
"Das ist ein Signal an uns alle"
Draußen vor dem Gerichtsgebäude warten all jene, die es nicht in den Saal geschafft haben. "Das ist ein Signal an uns alle", sagt eine Freundin der Familie: "Wagt es nicht, gegen das zu sein, was wir tun. Es ist ein Urteil gegen Worte, gegen eine Meinung. Wir sollen verstehen, was uns allen droht."
Eine junge Frau mit bunt gefärbten Haaren hat Tränen in den Augen. Es gehe nicht nur um Oleg, es gehe auch um ihre eigene Zukunft, sagt sie. Aber ich gehe nicht weg, ich bleibe in meinem Land. Ich weiß, dass sich eines Tages hier alles ändern wird. Und ich will dabei sein."