Proteste in Russland Gegen Willkür, nicht gegen das System
Die Solidarität für den Journalisten Golunow ist kein Einzelfall: Russische Aktivisten und Bürger kämpfen vielerorts für Veränderungen. Neu ist aber, dass das System ihnen Zugeständnisse macht. Ist das Land im Wandel?
Groß war die Freude vieler russischer Oppositioneller nach der Freilassung und Entlastung des Investigativjournalisten Iwan Golunow, der wegen angeblicher Drogendelikte festgenommen und von den Polizisten geschlagen worden war. Doch beim Protestzug durch Moskau, zu dem seine Unterstützer aufgerufen hatten, gingen russische Sicherheitskräfte massiv gegen die Demonstranten vor: Etwa 200 Menschen wurden festgenommen, darunter auch Mitarbeiter deutscher Nachrichtenmedien. "Gestern hatte man das Gefühl: Es gibt doch ein bisschen Verstand - und heute wieder so etwas", sagt Irina Scherbakowa von der Menschenrechtsorganisation Memorial.
Und doch scheint der Fall zu zeigen: Protestaktionen bleiben im Jahr 2019 in Russland nicht mehr wirkungslos, sondern finden teilweise auch an höchster Stelle Gehör. Das schnelle Einlenken der Behörden in dem Fall erklärt Scherbakowa auch mit internen Machtrangeleien: "In der Geschichte der Unfreiheit, die wir haben, ist es natürlich, dass man die Feinde seines Systems bekämpft, aber es auch Streit in den eigenen Reihen gibt." Golunows als Coup inszenierte Festnahme, die gleichzeitig mit einem Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg stattfand, habe Russlands Präsident Wladimir Putin dort die Show gestohlen.
"Es war so eindeutig, dass es sich hier um eine Racheaktion der Moskauer Oberschicht für seine Recherchen handelt, dass das Maß voll war - selbst bei der Obrigkeit", meint Scherbakowa. "Am hellichten Tag einen jungen Journalisten festzunehmen, den viele Leute als bescheidenen Mann kennen - das war wie ein Spucken ins Gesicht der Öffentlichkeit", sagt sie.
Graswurzelproteste in den russischen Provinzen
Die Empörungswelle nach der Festnahme Golunows habe einen Präzedenzfall geschaffen, meint auch Gwendolyn Sasse, die das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien in Berlin leitet. Dass sich die drei wichtigsten russischen Tageszeitungen "RBK", "Kommersant" und "Wedomosti" mit dem Journalisten solidarisierten und "Ich bin / wir sind Iwan Golunow" auf ihre Titelseiten druckten, habe die Hemmschwelle für offene Proteste gesenkt - und greife die Stimmung im Land auf: "Dahinter steht eine breite gesellschaftliche Unzufriedenheit. Die russische Gesellschaft verliert angesichts von Korruption und mangelnder Entwicklung in der Wirtschaft und Sozialpolitik zunehmend das Vertrauen in politische Institutionen, wie Umfragen zeigen", sagt Sasse.
Größere Proteste
Die Demonstrationen für Golunow sind aber längst nicht das einzige Beispiel für Protestbewegungen in Russland: Pläne zu Gesetzesänderungen über das Renteneintrittsalter und den Datenverkehr im Internet brachten vergangenes Jahr Zehntausende auf die Straßen. Momentan kämpfen in vielen Städten Menschen gegen Eingriffe in ihre Lebensumgebung - ob es wuchernde, stinkende Müllkippen in Archangelsk oder die Abholzung des Naturschutzgebiets "Elchinsel" im Moskauer Norden sind.
"Das sind oft lokale oder regionale Proteste 'von unten', die ganz konkrete Missstände anprangern", erklärt Sasse. "Viele davon bezeichnen sich selbst als apolitisch und stellen sich nicht direkt gegen das System Putin." Da falle es den politisch Verantwortlichen auch leichter, einzulenken.
Tatsächlich mehren sich in jüngerer Zeit die Fälle, in denen die russischen Behörden nach Protestbewegungen Zugeständnisse machen. Auf heftige Demonstrationen gegen den Bau einer Kirche im Jekaterinburger Stadtpark etwa folgte ein Machtwort von Präsident Putin persönlich: Die Bürger müssten zu dem Bauvorhaben befragt werden. Nachdem sich in einer Umfrage die Mehrheit der Jekaterinburger dagegen aussprachen, wird die Kirche nun andernorts gebaut.
"Sobald man wegschaut, bauen sie schon wieder"
Ein Sieg im Kleinen - aber für die Menschenrechtlerin Scherbakowa noch kein Grund zur Euphorie. "Wenn es solche Erfolge überhaupt einmal gibt, sind sie sehr klein. Sobald man wegschaut, bauen sie schon wieder", sagt sie. Es fehle der Opposition an einem koordinierten Vorgehen: Zwar versuchten Menschenrechtler, Bürgerrechtsaktivisten und Korruptionskritiker wie die prominente Figur Aleksej Nawalny auf allen Ebenen, gegen Unrecht vorzugehen - aber es gebe kein gemeinsames politisches Programm, das die zersplitterten Oppositionsgruppen einen könnte.
Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, von denen die Proteste vielerorts getragen werden, sind zwar unzufrieden - aber nicht alle sind Systemgegner. Damit hat sich auch das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien in seiner Forschung beschäftigt. "Viele ganz Junge - zum Teil sogar Schüler - demonstrieren in den ersten Reihen, gleichzeitig ist ein großer Teil der russischen Jugend sehr konservativ. Da tut sich eine Schere auf", sagt Sasse. Die öffentliche Wahrnehmung der politischen Elite ändere sich aber langsam, weil sie soziale und wirtschaftliche Erwartungen immer weniger erfülle - und durch das Vorgehen gegen die Opposition für viele diskreditiere.
Ablehnung demokratischer Prinzipien sitzt tief
Kommt es nun zu einem Reformschub, um die Russen wieder zu begeistern? Irina Scherbakowa ist skeptisch. "Dieses System kann sich nicht ändern. Es kann manchmal nachgeben, wenn ein Protest zu einem ungünstigen Zeitpunkt kommt, aber nicht den Kurs wechseln." Zu tief sitze die Ablehnung demokratischer Prinzipien.
Auch die Osteuropawissenschaftlerin Sasse meint, dass die rechtliche Willkür in Russland nun nicht plötzlich beendet ist. "Viele politische Gefangene sitzen nach wie vor in Haft und haben keine Möglichkeit, rechtsstaatliche Mittel einzufordern", betont sie. "Der Fall Golunow wird die anderen Fälle nicht maßgeblich beeinflussen." Wirklichen Wandel könne es erst in der Zeit nach Putin geben - ob er durch eine Bürgerrevolution oder Zwistigkeiten zwischen den Machteliten entsteht.
Für die Menschenrechtlerin Scherbakowa tragen die Proteste dennoch etwas Gutes in sich: "Man hat jetzt das Gefühl, man habe es geschafft, das System zu entlarven und gemeinsam durch Solidarität etwas erreicht", sagt sie. "Das gibt der Opposition einen Schimmer der Hoffnung."