Putins Rede zur Lage der Nation "Glaube an die imperiale Größe Russlands"
Was bezweckte Kreml-Chef Putin mit seiner Rede - und mit der Aufhebung des Abrüstungsvertrags "New Start"? Das erklärt Sarah Pagung, Russland- und Sicherheitsexpertin bei der Körber-Stiftung, im Interview.
tagesschau24: Dass Putin dem Westen die Schuld für den Krieg gibt, ist nicht neu. Hat Sie irgendwas überrascht an der Rede am Dienstag?
Sarah Pagung: Die Rede war im Großen und Ganzen ein Wiederaufwärmen der ganzen Propaganda-Narrative, die wir über das letzte Jahr schon gesehen haben: In der Ukraine regieren Nazis; im Donbass werden die Menschen von Kiew bedroht; der Westen sei schuld an diesem Krieg.
Auch innenpolitisch gibt es eigentlich kaum Neuerungen. Es zeigt sich vielmehr, wie durch und durch geprägt die russische Gesellschaft von diesem Krieg jetzt ist.
Das Einzige, wo man vielleicht noch mal genau hinschauen muss, ist die Suspendierung des "New Start"-Vertrages. Das ist doch etwas, was auch gerade mit Blick auf die Zukunft nicht gerade sehr hoffen lässt.
Größere nukleare Bedrohung?
tagesschau24: Wächst denn durch die Aussetzung dieses Abrüstungsabkommens aus Ihrer Sicht die nukleare Bedrohung?
Pagung: Ganz unmittelbar sicherlich erst mal nicht. Das würde ich nicht sagen. Wir haben allerdings zwei Effekte. Zum einen nutzt Russland diesen Vertrag als Instrument, um auf den Westen und auf die USA Druck auszuüben.
Denn eine Aufhebung von allen Abrüstungsverträgen bedeutet natürlich, dass es dort wahrscheinlich mehr Investitionen geben wird oder geben könnte. Das heißt, die Kosten für diesen Krieg - auch im Westen - steigern sich.
Und zum anderen verschafft es Russland Beinfreiheit im einzigen Bereich, in dem Russland überhaupt mit dem Westen wettbewerbsfähig ist - und das ist eben der der nuklearen Waffen.
Mehrkosten sollen Druck auf Westen erhöhen
tagesschau24: Sie sagen, Russland setze den Westen dadurch unter Druck, dass der Konflikt immer teurer wird. Ist das der Druck, dem der Westen nun ausgesetzt wird?
Pagung: Also das Kalkül in Moskau ist nach wie vor, dass die westliche Unterstützung für die Ukraine - und die ist ja ganz fundamental wichtig für das Durchhalten und für die Selbstverteidigung der Ukraine - über Zeit nachlassen wird.
Eben weil die Kosten immer mehr in die Höhe steigen: durch die militärische Hilfe, durch die finanzielle Hilfe, durch die Kosten, die wir ja auch für unsere eigene Verteidigungsfähigkeit ausgeben, auch durch Geflüchtete. Und da könnte das ein weiterer Faktor sein, um die Kosten zu steigern und einfach den Rucksack, den der Westen für diesen Druck schultern muss, noch weiter zu vergrößern.
"Putin hat entspannter gewirkt als bei anderen Reden"
tagesschau24: Wie hat denn Putin insgesamt auf Sie gewirkt bei dieser Rede? Wie jemand, der selbst unter Druck steht? Oder wie jemand, der ganz nüchtern seine Agenda durchzieht?
Pagung: Also ich glaube, auch darauf haben alle etwas gespannt geblickt. Weil der Zeitpunkt ja schon so gewählt ist, dass Russland gerade, und Putin selbst, unter Druck stehen - mit der Rede von Biden heute Nachmittag und auch mit seinem überraschenden Besuch gestern in Kiew.
Überraschenderweise hat er auf mich entspannter und auch lockerer gewirkt als bei vielen seiner anderen Reden im letzten Jahr, also auch deutlich weniger aggressiv. Ob das jetzt aber unbedingt irgendwas heißen muss oder vielleicht auch eine sehr bewusste Darstellung seiner selbst in dieser Situation ist, ist natürlich eine ganz andere Frage.
Glaubt Putin selbst, was er erzählt?
tagesschau24: Wobei man sich ja bisweilen fragt, ob der russische Präsident das alles, was er erzählt, selbst glaubt. Oder sind das nur Dinge, die der Öffentlichkeit erzählt werden?
Pagung: Es ist natürlich sehr schwierig, in seinen Kopf hineinzuschauen und genau zu wissen, was er denkt. Ich glaube allerdings, dass das grundlegende Weltbild, das hinter dieser Rede steckt - nämlich das des Glaubens an die imperiale Größe Russlands, an den Großmachtstatus Russlands und auch an die Tatsache, dass der Westen eigentlich nichts anderes im Sinn hat, außer Russland endlich in die Knie zu zwingen - dass das schon seine tiefe Überzeugung ist und auch sein festes Weltbild.
Ob er jede kleine Lüge, die er in dieser Rede verpackt, zum Beispiel die der Biolabore oder anderes - ob er das wirklich glaubt, ist doch eine andere Frage. Aber das grundsätzliche Weltbild, das ist etwas, was ich ihm schon abnehme.
Übernahme von Belarus?
tagesschau24: Heute sind ja Berichte bekannt geworden, wonach Russland planen soll, in den kommenden Jahren Belarus quasi zu übernehmen, durch gezielte Unterwanderung aller Strukturen. Wie schätzen Sie das ein? Ergibt das einen Sinn?
Pagung: Also es wäre zumindest eine Beschreibung dessen, was wir auch in den letzten Jahren sehen. Wir sehen, dass die Unabhängigkeit von Belarus immer weiter zusammenschmilzt: auf der politischen Ebene, auf der wirtschaftlichen Ebene und seit letztem Jahr auch zunehmend auf der militärischen Ebene.
Von da aus halte ich die Inhalte dieser Dokumente, die jetzt veröffentlicht wurden, für durchaus plausibel. Über deren Authentizität kann ich jetzt natürlich in der Form nichts sagen.
Das Interview führte Gerrit Derkowski, tagesschau24. Die Darstellung wurde für die schriftliche Form leicht angepasst.