Prozess zu Anschlägen in Brüssel Die Opfer hoffen auf Antworten
Das Verfahren zu den Anschlägen am Flughafen und in der Metro von Brüssel 2016 ist Belgiens größter Prozess. 32 Menschen wurden damals getötet, Hunderte verletzt. Für die Opfer ist die Verhandlung eine Belastung - und ein Abschluss.
Sabine Borgignons kann sich an nichts mehr erinnern. Die junge Frau saß am 22. März 2016 im Berufsverkehr um kurz nach neun Uhr in der Brüsseler Metro - hinter dem Waggon, den ein Selbstmordattentäter an der Haltestelle Maelbeek im Europaviertel in die Luft sprengte: "Ich lag anderthalb Monate lang im Koma. Ich bin eine von denen, die keine Erinnerung mehr haben - nicht an das Attentat, nicht an die Behandlung, nicht an die Zeit kurz davor in meinem Leben. Da sind sechs Monate Leere."
Und drei Monate davon lag sie im Krankenhaus. Vom Prozess, der jetzt sechs Jahre danach begonnen hat, erwartet sich die Belgierin vor allem eines - endlich mit den Geschehnissen von damals abschließen zu können: "Dass das endlich aufhört, weil man soviel darüber redet um mich herum, die ganze Zeit und jetzt noch mehr, da der Prozess beginnt. Ich würde mir ein Ende wünschen, weil das bedeuten würde, das Attentat hinter sich lassen zu können."
Nebenkläger wollen Antworten
Borgignons ist eine von rund 1020 Nebenklägerinnen und Nebenklägern in dem Mammutverfahren, das in einem ehemaligen NATO-Gebäude im Nordosten der belgischen Hauptstadt stattfindet. Olivia Venet vertritt als Mitglied eines Anwaltskollektivs etwa ein Viertel von ihnen. Ihr Eindruck: "Die Opfer wollen vor allem Antworten bekommen. Sie hoffen verstehen zu können, wie das passieren konnte, wie es zu solcher Gewalt kam, wie Menschen so etwas tun konnten und warum sie all dieses Leid durchmachen mussten."
Auch Gaetan Meuleman ist Nebenkläger. Er hat nach dem Anschlag als Ersthelfer Verletzte versorgt, die aus dem U-Bahn-Tunnel nach oben gebracht wurden, in einem Hotel neben dem Metro-Eingang, das als Notlazarett diente. Auch sechs Jahre danach ringt er um Fassung, wenn er an diesen Ort zurückkehrt: "Das können viele nicht verstehen. Die sagen: 'Das ist ja schon lange her, wir hören jetzt mit dem Gedenken auf'. Aber für uns ist das präsent. Für mich ist das, als wäre es gestern passiert. Das kann man nicht wegwischen."
Seit dem Anschlag kämpft Gaetan Meuleman mit psychischen Problemen. Er habe sich verändert, sagt er, sei aggressiver geworden. Hilfe vom Staat hat Meuleman nicht bekommen. Er hat sie auch nicht eingefordert: "Ich habe mich nie als Opfer gesehen, die Opfer - das waren doch die Verletzten."
Vom Staat im Stich gelassen?
Aber viele Betroffene fühlen sich von den Behörden im Stich gelassen, sagt die Anwältin Venet. In Belgien gibt es anders als in Frankreich keinen staatlichen Fonds, der Terroropfern schnelle Hilfe leistet, bis eine Versicherung einspringt. "Konkret müssen die Opfer selbst Anträge bei den verschiedenen Stellen einreichen, um herauszufinden, wer sie wie bezahlen kann und das ist ein Problem", erklärt die Opferanwältin Venet, "in Frankreich wenden sie sich an den Fonds, der sich dann um alles kümmert und das an die Versicherungen weitergibt. Hier müssen die Opfer alle Schritte selbst einleiten, und das ist extrem schwer und anstrengend für sie."
In Belgien fehle eine zentrale Anlaufstelle, die Betroffenen sagt, an welche Institutionen sie sich wenden müssen, erklärt Terroropfer Borgignons. Wie sie wurden über 300 Menschen bei den Anschlägen in der Brüsseler Metro und am Flughafen Zaventem verletzt, viele von ihnen schwer, 32 Menschen kamen ums Leben. Neun Männer sitzen dafür auf der Anklagebank, ein weiterer Beschuldigter gilt als vermisst.
Die Staatsanwaltschaft wirft acht von ihnen terroristischen Mord und versuchten terroristischen Mord vor sowie Mitgliedschaft in einer Terrorgruppe. Mehrere Angeklagte hatten sich geweigert, im Gerichtssaal in einem in Zellen unterteilten Panzerglas-Kasten zu sitzen. Auf Anordnung der Vorsitzenden Richterin wurde umgebaut: Die Trennwände zwischen den Männern wurden abmontiert, die Glasfront zum Saal ist jetzt unterbrochen, damit sie der Verhandlung folgen und mit ihren Anwälten reden können. Das hat den Prozessauftakt um zwei Monate verzögert.
Keine Wut, nur Unverständnis und Trauer
Borgignons, die bei der Explosion in der U-Bahn schwer verletzt wurde, wird den Beschuldigten im Verfahren begegnen. Sie fühlt nach eigenen Worten keinen Zorn. In den Angeklagten sieht sie Dummköpfe, die sich verführen ließen: "Die haben sich beeinflussen lassen von dem, was man ihnen gesagt hat und sie haben das ganze Zeug geglaubt, dass sie ins Paradies kommen und was weiß ich. Das sind doch nur Idioten - die Verantwortlichen sind die Leute darüber, die ihnen das alles versprochen haben. Ich fühle Unverständnis, keine Wut. Unverständnis und Traurigkeit - weil das viele Leben beschädigt hat. So viele Opfer und all das für ich weiß nicht was".
Opfer und Angehörige wollen Antworten vom Prozess. Aber die kann die juristische Aufarbeitung der Anschläge nur zum Teil liefern, erklärt die Anwältin Olivia Venet: "Wir werden am Ende immer nur eine gerichtliche Wahrheit haben, nie eine absolute Wahrheit. Das hängt auch davon ab, was die Angeklagten im Prozess mitteilen - werden sie Fragen beantworten, werden sie sich erklären? Auf jeden Fall werden wir die gesamte Untersuchung aufarbeiten. Wir überprüfen alles, was Ermittler, Untersuchungsrichter, Staatsanwalt recherchiert haben. Das wird schon eine Art von Antwort für die Opfer sein. Aber es ist leider sehr selten, dass ein Prozess alle Antworten bringt."
Voraussichtlich Ende Januar kommen im Prozess Opfer zu Wort. Das Verfahren soll zwischen sechs und neun Monaten dauern.