Migrationsforscherin "Politik des Sterbenlassens" an EU-Grenzen
Die Fluchtursachen bleiben, die Gesetze werden härter, das Gesellschaftsklima rauer: Migrationsforscherin Hess schildert, wie sich die Lage für Migranten weltweit verändert hat - und welche Krisen noch hinzukommen werden.
tagesschau.de: Vor fünf Jahren lag das Augenmerk auf einer großen Zahl Geflüchteter aus Syrien und dem südlichen Afrika, die vor allem über das Mittelmeer nach Europa kamen. Das Bild des toten Flüchtlingsjungen Alan Kurdi ging um die Welt und löste Entsetzen und Forderungen nach einer humaneren Migrationspolitik aus. Was hat sich inzwischen verändert?
Hess: Die Ursachen - kriegerische und desaströse politische Systeme, die Flüchtlinge "produzieren" - haben sich nicht allzu sehr verändert. Auch die Hauptherkunftsländer der Flüchtlingsgruppen sind konstant geblieben.
Was sich massiv geändert hat, ist die weltweite und vor allem die europäische Politik. Das heißt: Obwohl Menschen 2015 und jetzt 2020 aus den gleichen Gründen aufbrechen, haben sie andere - schlechtere - Chancen bei der Frage, wie mit ihrer Flucht umgegangen wird. Wenn wir uns vorstellen, dass wir eigentlich immer noch eine internationale Flüchtlingskonvention haben, liegt darin das eigentliche Problem.
Sabine Hess ist Professorin für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie an der Georg-August-Universität Göttingen. Ihre Fachgebiete sind Migration, Transnationalisierung sowie Geschlechterfragen. Sie ist Leiterin des EU-Fluchtforschungsprojekts "Respond" und Mitglied im Wissenschaftsverein "Rat für Migration", der politische Entscheidungen und Debatten zu Migration, Integration und Asyl kritisch begleitet.
Kinder tragen Wasser über eine provisorische Brücke über den Müll im Lager Moria. Dort leben 20.000 Menschen.
tagesschau.de: Wie hat sich die international seitdem geforderte Teilung von Verantwortung entwickelt?
Hess: In der Forschung sprechen wir von einer rasanten Renationalisierung der Politik, die eine doppelte Bedeutung hat: Zum einen zeichnet sich in Europa ab, obwohl wir mit dem Schengenraum, dem gemeinsamen Binnenmarkt und EU-Rechtsraum verbunden sind, dass jedes Land versucht, im nationalen Sinne souveräne Politik zu machen - und dabei massiv Verträge, Standards, Rechtssetzungsprozess in den Schmutz tritt. Etwa, wenn Ungarn sich gegen die Aufnahme geflüchteter Menschen verwehrt oder Griechenland und Italien bei der Seenotrettung die internationale und europäische Norm nicht mehr beachten.
Zum anderen sehen wir, dass Staaten seit 2015 massiv und teils auch erfolgreich versucht haben, den Prozess wieder in die eigene Hand zu nehmen und Kontrolle über NGOs, die Zivilgesellschaft, aber auch das Fluchtgeschehen zu bekommen - auch mit einer massiven Kriminalisierung von Fluchthelfern, etwa wegen Menschenschmuggels. Diese Prozesse haben katastrophale Auswirkungen hinsichtlich der Versorgung der fliehenden und geflüchteten Menschen. Das Lager Moria auf Lesbos ist das beste Beispiel: Von dort wurden mittlerweile so viele NGOs hinausgegängelt, dass die Gesundheitsversorgung zusammengebrochen ist.
tagesschau.de: Warum funktioniert die Zusammenarbeit zwischen Staaten nicht besser, wenn sie doch offenbar das gleiche erreichen wollen?
Hess: Weil eine Supra- und Transnationalisierung, zum Beispiel im Rahmen der EU, schon immer prekär war, vielleicht sogar nur halbherzig versucht wurde. Wir haben seit zwei Jahren den Globalen Pakt für Migration und den UN-Flüchtlingspakt, also eigentlich den Versuch der internationalen Staatengemeinschaft, einen globalen Rechtsrahmen und Standards zu setzen. Die spielen in Europa so gut wie keine Rolle mehr, habe ich den Eindruck.
"Das Gros der Menschen flüchtet innerhalb ihrer Herkunftsländer"
tagesschau.de: Gegen den UN-Migrationspakt haben rechtspopulistische Kräfte in ganz Europa unaufhörlich Stimmung gemacht. Sie stellten ihn als das Ende nationaler Souveränität oder als zwangsweise großangelegte Bevölkerungsumsiedlung dar. Ein Narrativ, das hängen blieb, war auch: Flucht erfolgt aus dem Globalen Süden in den Globalen Norden - deshalb gehe die Asylpolitik zulasten Europas.
Hess: Historisch gesehen war das Flucht- und Migrationsgeschehen vom Süden in den Norden vor allem ein Effekt von europäischen Kolonialismen: etwa durch den transatlantischen Sklavenhandel, zwangsweise Verschleppung von Arbeitskräften aus Afrika et cetera. Diese Historie dürfen wir nicht vergessen, wenn wir uns gegenwärtig eine der kompliziertesten und tödlichsten Migrationsrouten anschauen: die aus dem afrikanischen Raum nach Europa. Außerdem gab es auf dem afrikanischen Kontinent und auch aus Lateinamerika jahrhundertelang Migrationsströme und Verbindungen Richtung arabische Welt oder Richtung China.
Wenn wir heute auf die globale Migrationskarte sehen, merken wir, dass es viel, viel komplizierter ist als "Flucht aus dem Süden in den Norden": Nicht jeder, der an Migration denkt, denkt gleich an Europa, sondern es gibt gerade in den letzten Jahren zunehmend eine Süd-Süd-Migration und eine Süd-Ost-Migration. Auch das Bild von der linearen, dauerhaften Aus- und Einwanderung ist nicht richtig: Historisch gesehen und den Zahlen nach ist zirkuläre Mobilität, also eine zeitweise Migration und spätere Rückwanderung, viel ausschlaggebender.
Ein Mann hält seinen Sohn im Arm, nachdem er aus dem Mittelmeer gerettet wurde. Die Seenotrettung übernehmen großteils private Hilfsinitiativen.
tagesschau.de: Es gibt verschiedene Arten, Migration zu erfassen: Durch die Bestandszahlen derer, die schon migriert sind, oder anhand der Bewegungen, die durch Zu- und Abwanderung zwischen Staaten stattgefunden haben. Beide kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen auf die Frage, wie viele Menschen weltweit migriert oder geflüchtet sind...
Hess: Statistiken zur Migration haben das Problem, dass sie eine enorme Dunkelziffer aufweisen, die verschiedenste Mobilitätsarten gar nicht erfasst. Aber was wir schon sehen, ist: dass die Zahl der zwangsweise Migrierenden, also Flüchtenden, zunimmt. Das gilt nicht nur für die Fluchtmigration zwischen Ländern und Kontinenten, sondern auch für die Zahl der Binnenvertriebenen. Das Gros der Menschen flüchtet innerhalb ihrer Herkunftsländer oder -regionen - und damit sind es die Länder des Südens und die Schwellenländer, die das auffangen.
tagesschau.de: Liegt das daran, dass die Menschen sich ursprünglich auf den Weg nach Europa gemacht hatten, aber nun "festsitzen", wie oft in Reportagen zu sehen ist?
Hess: Wenn wir über Fluchtmigration reden, dann reden wir ja über eine zwangsweise Migration, wo Leute ungeplant und abrupt aufbrechen müssen. Oft fliehen sie dann erst einmal über die nächstliegende Grenze oder bleiben in der Region - natürlich in der Hoffnung, dass die Konflikte bald zu Ende gehen und sie zurückkehren, möglichst auch ihren Besitz bewahren können. Viele haben auch nicht das Geld für eine transnationale oder -kontinentale Migration. Aber es hat auch zunehmend mit der Migrationspolitik der regionalen Großmächte, auch der europäischen, zu tun, die seit etwa 20 Jahren auf regionales "containment" ausgerichtet ist, also auf eine räumliche Eindämmung von Migrationsbewegungen.
"Krisen, die sich zum Dauerzustand verstetigen"
tagesschau.de: Welche Folgen haben solche Abstoßungsreaktionen, die durch das Erstarken rechtspopulistischer Kräfte in ganz Europa befeuert wurden, letztlich für die geflüchteten und migrierten Menschen?
Hess: Wir sehen schon, dass die massive Aufrüstung der Grenzen und der tägliche Rechtsbruch durch Zurückweisungen dazu geführt hat, dass immer weniger Menschen sich auf die Fluchtrouten begeben.
So ist zum Beispiel mit der Balkanroute in den Jahren 2015 und 2016 kurzzeitig der Frauenanteil unter den Geflüchteten gestiegen, weil sie für kurze Zeit ein halbwegs sicherer Fluchtkorridor war. Daher kann ich sagen: Die Verschärfung des EU-Asylrechts ist vor allem eine frauenfeindliche Politik. So berichten meine Mitarbeiterinnen, die auf den griechischen Inseln in den letzten Jahren forschen, von Mädchen- und Frauenhandel und Zwangsprostitution in den Lagern.
Diese Politik führt auch zu dem Eindruck, dass das Leben von Menschen aus dem Globalen Süden momentan wenig zählt - und das wirft vor dem Hintergrund einer "Black Lives Matter"-Bewegung massive Fragen für Europa auf. Denn es sind schwarze Körper, die an der EU-Außengrenze drastisch abgewehrt werden und sterben. Nicht nur im Mittelmeer, sondern auch entlang der türkisch griechischen Grenze, zwischen Bosnien und Kroatien werden immer wieder Tote aufgefunden. Man könnte auch von einer Politik des Sterbenlassens sprechen.
Die Menschen, die überhaupt noch ankommen, sind konfrontiert mit einem sehr verschärften Asylsystem, mit Schnellverfahren, mit prekären Lebensverhältnissen, die eigentlich für europäische Verhältnisse unglaublich sind.
"Schwarze Leben zählen" und "die Leben von Geflüchteten zählen" steht auf dem Protestplakat eines Demonstranten in Athen (Archivbild vom Juni 2020).
tagesschau.de: Auch konstruktive Kräfte in der Politik betonen immer wieder, wie zentral die Bekämpfung von Fluchtursachen sei. Welche sind 2020 die hauptsächlichen Auslöser von Migration - und welche werden in absehbarer Zukunft hinzukommen?
Hess: Wenn wir von den klassischen europäischen Begriffsdefinitionen von Fluchtursachen ausgehen, gibt es da eine relative Beständigkeit: Es sind Kriege, die vor allem von den westlichen und mittlerweile ganz massiv auch von den arabischen Ländern geführt und am Laufen gehalten werden. Es sind auch massive Destabilisierung und korrupte politische Regime - in Libyen, Afghanistan, dem Irak sprechen wir von "protracted crises", also Krisen, die sich zum Dauerzustand verstetigen. Wenn wir auf Afrika blicken, etwa den Sudan oder Mali, wird es noch komplizierter: Da kommt zusätzlich noch eine ökonomische und wirtschaftliche Destabilisierungspolitik dazu, die auch durch den Internationalen Währungsfonds, durch Strukturanpassungsprogramme von ehemaligen Kolonialmächten mitverschuldet ist.
tagesschau.de: Welche Auswirkungen hat die Klimakrise auf weltweite Migrationsbewegungen?
Hess: Klimabedingte Flucht und Migration wird ein zunehmend relevanterer Faktor werden - auch wenn sie in der internationalen Rechtssetzung noch gar nicht als solche abgebildet wird. Das prognostizierte weltweite Bevölkerungswachstum und die immer stärkere Urbanisierung tragen zusätzlich zur Verknappung von Ressourcen bei.
Ich glaube, da kommen noch ganz neue Regionen ins Blickfeld, die zunehmend nicht mehr bewohnbar sind; wo Umweltkatastrophen wie Dürren, Brände oder Überschwemmungen zunehmen: die polynesischen Inseln, Australien, Neuseeland, aber auch Grönland. Wir sehen auch in Südeuropa in zunehmendem Maß, dass dort Böden veröden und Waldbrände in Griechenland, den USA und Russland wüten.
Vielleicht ist der Klimawandel in dieser Hinsicht auch ein gleichmachender Faktor: Er ist nicht auf den Globalen Süden konzentriert und wird von uns fernbleiben, sondern hat auch mit uns zu tun.
Die Fragen stellte Jasper Steinlein, tagesschau.de.