Kara-Mursas Schlussworte "Ich bereue nichts - ich bin stolz darauf"
Der Prozess gegen den russischen Oppositionellen Kara-Mursa wegen Hochverrats fand unter strengster Geheimhaltung statt. Dennoch drang wenige Tage vor dem Urteil sein Schlusswort an die Öffentlichkeit. tagesschau.de dokumentiert es im Wortlaut.
"Nach zwei Jahrzehnten in der russischen Politik, nach all dem, was ich gesehen und erlebt habe, war ich mir sicher, dass mich nichts mehr überraschen kann. Ich muss gestehen, dass ich mich geirrt habe.
Mich hat doch überrascht, dass mein Prozess im Jahr 2023, dass mein Prozess hinsichtlich des Ausmaßes der Geheimhaltung und der Diskriminierung meiner Verteidigung die 'Prozesse' gegen die sowjetischen Dissidenten der 1960er- und 1970er-Jahre noch übertroffen hat.
Ganz zu schweigen von der geforderten Haftstrafe und der Bezeichnung 'Feind': Das sind nicht einmal die 1970er-, sondern die 1930er-Jahre. Für mich als Historiker ist das ein Anlass zur Reflexion.
Während der Vernehmung vor Gericht hat der Vorsitzende (Richter) mich daran erinnert, dass 'Reue für die begangene Tat' ein mildernder Umstand ist. Obwohl ich derzeit wenig Erfreuliches erlebe, konnte ich ein Lächeln nicht unterdrücken.
Verbrecher sollten begangene Straftaten bereuen. Aber ich bin im Gefängnis wegen meiner politischen Ansichten. Wegen der Auftritte gegen den Krieg in der Ukraine. Wegen des langjährigen Kampfes gegen Putins Diktatur. Wegen der Unterstützung internationaler Sanktionen gegen Einzelpersonen unter dem Magnizkij-Gesetz wegen der Verletzung von Menschenrechten.
Und ich bereue nichts von alldem - ich bin stolz darauf. Ich bin stolz darauf, dass Boris Nemzow mich in die Politik gebracht hat. Und ich hoffe, dass er sich dafür nicht schämt. Ich unterschreibe jedes Wort, das ich sagte und dessen man mich nun in dieser Anklage beschuldigt.
Ich bereue nur eins: Dass ich im Laufe meiner politischen Tätigkeit nicht genügend meiner Landsleute und Politiker aus demokratischen Ländern davon überzeugen konnte, wie gefährlich das jetzige Regime im Kreml für Russland und für die Welt ist. Heute ist es klar geworden, allerdings um einen schrecklichen Preis - um den Preis des Krieges.
Im letzten Wort bittet man normalerweise um den Freispruch. Für einen Menschen, der kein Verbrechen begangen hat, wäre Freispruch das einzig legitime Urteil. Aber ich bitte dieses Gericht um nichts. Ich kenne mein Urteil. Ich kannte es bereits vor einem Jahr, als ich im Rückspiegel die schwarz uniformierten und schwarz maskierten Leute sah, die hinter meinem Wagen herliefen. Das ist in Russland jetzt der Preis dafür, dass man nicht schweigt.
Aber ich weiß, dass der Tag kommt, an dem sich die Finsternis über unserem Lande auflöst. An dem schwarz wieder als schwarz bezeichnet wird und weiß als weiß. An dem offiziell anerkannt wird, dass zwei mal zwei doch vier ist. An dem der Krieg wieder Krieg genannt wird und der Usurpator wieder Usurpator. An dem diejenigen, die diesen Krieg angezündet und ausgelöst haben, als Verbrecher bezeichnet werden - und nicht diejenigen, die versucht haben, ihn zu stoppen.
Dieser Tag kommt genau so sicher wie der Frühling selbst nach dem eisigsten Winter kommt. Dann wird unsere Gesellschaft die Augen öffnen und davor erschrecken, welche fürchterlichen Verbrechen in ihrem Namen begangen wurden. Mit dieser Einsicht, mit diesem Denken beginnt ein langer, schwerer, doch für uns alle so wichtiger Weg der Genesung und des Wiederaufbaus von Russland, seiner Rückkehr in die Gemeinschaft der zivilisierten Länder.
Sogar heute, sogar in dieser Dunkelheit, die uns umgibt, sogar in diesem Käfig, liebe ich mein Land und glaube an seine Menschen. Ich glaube, dass wir diesen Weg meistern können."
Quelle: TV Doschd, 10. April 2023