Reformpläne der Regierung Wo hakt es bei Frankreichs Rentensystem?
Die Gewerkschaften in Frankreich nennen die geplante Rentenreform "brutal" und protestieren vehement. Die Regierung sagt, sie müsse kommende Milliardendefizite auffangen. Wie funktioniert das Rentensystem eigentlich?
"Mit der Rentenreform kann man gleich mehrere Regierungen zu Fall bringen", soll der damalige Premierminister Michel Rocard gesagt haben, als ihm 1991 ein Weißbuch für dieses heikle Projekt vorgelegt wurde. Nun hat Elisabeth Borne die undankbare Aufgabe, das französische Rentensystem zu reformieren - und stößt auf heftigen Gegenwind.
"Leben wie Gott in Frankreich"
Was die Renten angehe, lebe man tatsächlich wie Gott in Frankreich, findet Wirtschaftsminister Bruno Le Maire. Denn Frankreich habe eines der großzügigsten Rentensysteme der Welt. Doch es gibt ein grundsätzliches Problem und das ist das selbe wie in Deutschland: "Das System basiert auf dem Zusammenhalt der Generationen: Zwischen denen die arbeiten und denen die nicht mehr arbeiten", sagt Le Maire. Aber weil die Gesellschaft immer älter werde, sei das finanzielle Gleichgewicht dieses Systems bedroht.
Wie groß das Defizit wirklich ist, das den französischen Rentenkassen droht - dazu gibt es sehr unterschiedliche Aussagen. Die Szenarien unterscheiden sich, je nachdem, welche Arbeitslosenquote oder Wirtschaftsentwicklung zugrunde gelegt wird. Für die französische Regierung ist das drohende Finanzloch trotzdem der entscheidende Punkt, der die Reform nötig macht.
Regierungssprecher Olivier Véran sagt, die Zahlen seien unnachgiebig. "Wenn wir das Rentensystem nicht reformieren, dann werden wir jedes Jahr Defizite anhäufen. Das fängt bei zehn Milliarden Euro pro Jahr an; dann werden es 15, 20 Milliarden Euro", so Véran.
Das summiert sich, wenn wir nicht handeln. Und das bedeutet den Bankrott des Rentensystems.
Rund 332 Milliarden Euro haben die Rentenansprüche den französischen Staat 2020 laut offiziellen Angaben gekostet. Das entspricht rund 14 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und 41 Prozent aller Sozialausgaben.
Arbeitsminister will Sonderrechte abschaffen
Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer in Frankreich gehört je nach Berufsgruppe einer speziellen Rentenkasse an. Insgesamt gibt es 42. Manche Spezialkassen ermöglichen es ihren Versicherten, früher in Rente zu gehen.
Schluss damit, sagt Arbeitsminister Olivier Dussopt. Er will einige dieser "régimes spéciaux" abschaffen. Zum Beispiel für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Pariser Verkehrsbetriebe oder der staatlichen Elektrizitäts- und Gasunternehmen.
Man wolle Schluss machen mit Verhältnissen, die wie Privilegien wirken könnten, sagt Dussopt: "Diesen Mut hatte bisher niemand." Die "régimes spéciaux" seien überholt, denn der Arbeitsalltag in diesen Berufen habe sich verändert. "Das darf aber nicht gegen Vereinbarungen durchgesetzt werden, die es schon gibt. Deshalb werden die 'régimes spéciaux' nur für diejenigen abgeschafft, die neu eingestellt werden."
Rentenkassen sollen bis 2030 ausgeglichen sein
An den Rentenbeiträgen will die Regierung dagegen nicht schrauben. Wie viel ein Arbeitnehmer in die Rentenkasse einzahlt, hängt davon ab in welcher Kasse er versichert ist. Ein Angestellter im Privatsektor zum Beispiel zahlt, vereinfacht gesagt, 10,5 Prozent seines Bruttogehalts in die Rentenversicherung - der Arbeitgeber sogar gut 13 Prozent. Grundsätzlich sind die Beiträge also höher als in Deutschland und nicht paritätisch aufgeteilt. Neben den Beiträgen fließen unter anderem Steuermittel ins Rentensystem.
Das Umlagesystem durch noch höhere Beiträge zu retten, könne aber nicht die Lösung sein, sagt Premierministerin Borne. Man werde weder die Lohnkosten noch die Steuern erhöhen, "denn unser Ziel ist Vollbeschäftigung":
Wir legen mit dem Projekt eine Garantie vor, bis 2030 die Rentenkassen finanziell auszugleichen.
Rente in Frankreich höher als im OECD-Durchschnitt
Dafür müssen die Franzosen aus Sicht der Regierung länger arbeiten - und das ist der zentrale Streitpunkt der Reform. Wer das aktuelle Renteneintrittsalter von 62 Jahren erreicht hat und abschlagsfrei in Rente gehen will, muss 42 Jahre lang Beiträge gezahlt haben. Durch die Reform soll nicht nur das Renteneintrittsalter schrittweise auf 64 angehoben werden. In Zukunft müssen die Franzosen auch 43 Jahre Beiträge zahlen, um volle Rentenansprüche zu haben.
Wer durchschnittlich verdient hat, erhält rund drei Viertel seines früheren Nettoeinkommens als Rente - mehr als im OECD-Durchschnitt. Dass viele Franzosen die jetzige Reform trotzdem so vehement ablehnen, habe aber einen Grund, glaubt der Soziologe Bruno Cautrès: In der alternden französischen Gesellschaft fehle eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Frage, was länger arbeiten bedeute. "Heißt das, nur Beitragszahler zu sein und das finanzielle Überleben des Systems zu sichern? Oder heißt das, man bleibt länger aktiv, um nochmal den Job zu wechseln; seine materielle Situation zu verbessern; um neue berufliche Perspektiven zu entwickeln?", so Cautrès. "All das fehlt."
Der Anteil der Menschen zwischen 55 und 64, die noch arbeiten, beträgt in Frankreich rund 56 Prozent - in Deutschland sind es fast 72 Prozent. Dass sich am Rentensystem ganz grundsätzlich etwas ändern muss, sagt übrigens eine Mehrheit der Menschen in Frankreich. Doch über das "Wie" dürfte in den kommenden Wochen heftig gestritten werden.