Bruno Le Maire trinkt einen Kaffee in einem Pariser Café
Interview

Deutsch-französische Beziehungen "Wir sind immer noch der Motor"

Stand: 22.01.2023 09:30 Uhr

Ist nach 60 Jahren deutsch-französischer Vertrag der Lack ab? Frankreichs Wirtschaftsminister Le Maire warnt im Interview zum Jubiläum vor zu viel Kritik am Beziehungsstatus. Paris und Berlin seien immer noch in der Lage, ihre Probleme zu lösen.

ARD: Herr Minister, wie geht es dem deutsch-französischen Motor?

Bruno Le Maire: Er läuft sehr gut. Im Gegensatz zu dem, was ich hier und da höre, funktioniert der Motor! Es ist ein Motor, der stark ist und starke Ergebnisse liefert. Das hat man beispielsweise während der Corona-Krise gesehen, als der französische Staatspräsident und die Bundeskanzlerin die Vergemeinschaftung von Schulden beschlossen haben.

Man sieht es heute an der sehr starken deutsch-französischen Reaktion auf den amerikanischen Inflation Reduction Act. Es handelt sich also um einen Motor, der gut funktioniert, der stark ist und der für Frankreich und Deutschland, aber auch für alle anderen europäischen Länder nützlich ist.

Bruno Le Maire
Zur Person
Bruno Le Maire ist französischer Minister für Wirtschaft und Finanzen. Er hat mehrere Bücher verfasst, unter anderem über seine Zeit als Minister unter Präsident Sarkozy.

"Schwierigkeiten durch Dialog überwunden"

ARD: Ich spüre in Frankreich dennoch ein fast reflexhaftes Misstrauen gegenüber Deutschland. Zum Beispiel im Zusammenhang mit dem "Doppelwumms", dem 200 Milliarden Euro schweren Unterstützungspaket der deutschen Regierung für ihre Wirtschaft und ihre Bevölkerung. Dieser "Doppelwumms" hat hier in Frankreich für Misstrauen gesorgt.

Le Maire: Bei einigen politischen Parteien mag es Misstrauen gegenüber Deutschland geben, und einige spielen sogar mit einer kaum verhohlenen Germanophobie, einer Ablehnung von allem, was deutsch ist. Das ist dumm, unproduktiv und empörend gegenüber unseren deutschen Freunden. Ich glaube im Gegenteil, dass Deutschland der wichtigste Partner Frankreichs ist, dass unsere Zusammenarbeit zu Ergebnissen führt, die uns weiterbringen.

Und wenn es "Misstrauen" gibt, um den deutschen Ausdruck aufzugreifen, dann ist es besser, miteinander zu reden und sich auszutauschen. In 20 Jahren politischer Erfahrung kann ich Ihnen kein einziges Beispiel nennen, wo eine Schwierigkeit zwischen Frankreich und Deutschland nicht am Ende durch den Dialog überwunden worden wäre.

"Wir müssen konkrete Lösungen finden"

ARD: Trotzdem gab es im Oktober diesen "Unfall" des deutsch-französischen Motors. Der gemeinsame Ministerrat wurde kurzfristig abgesagt.

Le Maire: Ich denke, im Oktober wurde eine weise Entscheidung getroffen, nämlich zu sagen: Wir haben die Ukraine-Krise, wir haben die Energiekrise, wir haben alle erhebliche wirtschaftliche Schwierigkeiten. Wir haben die Inflation, die gerade explodiert und die dem deutschen Volk und dem französischen Volk große Probleme bereitet. Wir müssen beim deutsch-französischen Ministerrat konkrete Lösungen finden.

Aber um das ganz klar zu sagen: Zu diesem Zeitpunkt gab es keine deutsch-französische Lösung, die den Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert waren, gerecht geworden wäre. Anstatt einen Berg zu haben, der eine Maus gebiert, war es besser, die Sache zu verschieben. Das wurde dann auch getan. Es war eine gute Entscheidung.

"Starke grüne Industrie aufbauen"

ARD: Europa steht gerade wirtschaftlich vor vielen Herausforderung und muss zum Beispiel eine gemeinsame Antwort auf den US-amerikanischen Inflation Reduction Act finden. Sie haben deutsch-französische Initiativen angekündigt. Können Sie diese konkretisieren?

Le Maire: Im Bereich der Wirtschaft besteht das vorrangige Ziel darin, eine grüne Industrie aufzubauen, eine kohlenstofffreie Industrie in Europa, die stark und wettbewerbsfähig ist und die uns unabhängiger macht.

Ganz konkret geht es uns darum, Projekte, die im kollektiven europäischen Interesse sind, zu vereinfachen; nicht nur durch Subventionen, sondern vielleicht auch mit Steuergutschriften zur Unterstützung unserer Industrie; wir wollen unverzüglich den beschlossenen EU-Klima-Zoll umsetzen. All dies sind sehr konkrete Projekte, die zwischen Frankreich und Deutschland angepackt wurden und die es uns ermöglichen werden, eine sehr starke grüne Industrie in Europa aufzubauen.

"Differenzen auf den Tisch legen, damit wir sie überwinden können"

ARD: Sprechen wir von einem eher komplizierten Feld der deutsch-französischen Zusammenarbeit: von der Rüstungsindustrie. Wir haben im Zusammenhang mit dem Kampfflugzeug-System FCAS einen regelrechten Krimi, einen Thriller erlebt. Obwohl der politische Wille zur Kooperation offensichtlich ist, wäre die Zusammenarbeit zwischen Airbus und Dassault beinahe gescheitert. Warum?

Le Maire: Zunächst einmal: Ich bin davon überzeugt, dass wir das schaffen werden. Und selbst zwischen zwei Nationen, die sich so nahe stehen wie Frankreich und Deutschland - so nah, wie man es sich nur vorstellen kann - gibt es kleine Widerstände, wenn es darum geht, sensible Technologien zu teilen. Das ist verständlich. Auch hier sollten wir die Differenzen auf den Tisch legen, damit wir sie überwinden können.

Ich denke, das Schlimmste wäre, wenn wir so tun, als ob wir völlig identisch wären, oder? Frankreich ist Frankreich, Deutschland ist Deutschland. Wir haben nicht die gleiche Geschichte, nicht die gleichen Traditionen, nicht das gleiche Verhältnis zur Armee. Das muss berücksichtigt werden, wenn wir gemeinsam Fortschritte machen wollen.

Sprache gut kennen, um ein Volk gut zu kennen

ARD: Um sich zu verständigen, muss man sich verstehen. Aber leider lernen immer weniger junge Menschen in Frankreich Deutsch. Ist Deutsch immer noch ein Vorteil auf dem Arbeitsmarkt?

Le Maire: Die deutsche Sprache ist ein kultureller Trumpf. Und ich halte sie für einen sehr wichtigen Trumpf auf dem Arbeitsmarkt, weil es große deutsche Unternehmen gibt. Die deutsche Sprache hilft ungeheuer dabei, die Gedanken zu strukturieren. Das ist eine sehr persönliche Überzeugung, die nur mir gehört. Aber ich glaube, dass man ein Volk nur dann gut kennt, wenn man seine Sprache kennt.

Es wird einige Zeit dauern, das Erlernen der deutschen Sprache wieder in Gang zu bringen. Ich für meinen Teil bin absolut entschlossen dazu. Aber es ist wahr, dass das Zeit brauchen wird oder wie man im Deutschen sagt: "Es ist ein weites Feld."

Elysee-Vertrag: Deutsche Arbeitskräfte in Frankreich

Europamagazin 12:45 Uhr

Was Europa seinen Schwung verleiht

ARD: Zum Schluss vielleicht noch eine Frage an den Schriftsteller, der Sie ja auch sind. Ist das deutsch-französische Paar wirklich noch der "Motor" Europas oder haben Sie ein anderes Bild, vielleicht ein wahreres, passenderes?

Le Maire: Ich glaube, wir sind immer noch der Motor. Das, was Europa seinen Schwung verleiht, ist immer noch eine Einigung zwischen Berlin und Paris, zwischen Deutschland und Frankreich. Das sind keine exklusiven Einigungen, das nicht.

Ich denke, eine Veränderung besteht darin, dass sich Paris und Berlin bewusst geworden sind, dass ihre Beziehung gegenüber den anderen europäischen Nationen offen sein muss und dass jedes Mal alle anderen europäischen Länder, die dies wünschen, einbezogen werden müssen.

Das Gespräch führte Julia Borutta, ARD-Studio Paris

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 22. Januar 2023 um 09:58 Uhr.