70 Jahre Flüchtlingskonvention "Man muss die EU an ihre Pflichten erinnern"
Mit der Flüchtlingskonvention zog die Weltgemeinschaft Lehren aus dem Holocaust. 70 Jahre danach sind neue Fluchtgründe dazugekommen, sagt die Migrationsexpertin Bendel. Dennoch verstoßen manche EU-Staaten gegen die Konvention.
tagesschau.de: Was war und ist die wesentliche Errungenschaft der Flüchtlingskonvention?
Petra Bendel: Die Genfer Flüchtlingskonvention konkretisiert den völkerrechtlichen Flüchtlingsschutz zum ersten Mal. Die wichtigste Errungenschaft ist, dass sie überhaupt definiert, wer Flüchtlingsschutz erhalten soll - nämlich Personen, die aufgrund ihrer "Rasse", Religion, Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung auf der Flucht sind. Erstmalig konnten sich die Staaten 1951 auf diese Definition einigen. Die Konvention gibt darüber hinaus an, welche Schutzgarantien und Verpflichtungen den Flüchtlingen und welche Pflichten den Aufnahmestaaten zukommen. Das ist bis heute die Grundlage des internationalen Flüchtlingsrechts. 70 Jahre später hat die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) in keiner Weise an Aktualität eingebüßt.
tagesschau.de: Die Konvention richtete sich ursprünglich an die europäischen Staaten. Ist das heute noch relevant?
Bendel: Die Konvention ist aus der Erfahrung heraus entstanden, dass Menschen, die auf der Flucht vor dem Holocaust waren, keinen Schutz bekamen. Sie kamen um, weil Staaten sich weigerten, ihnen Schutz zu gewähren. Daran müssen wir heute erinnern: Diese internationale Flüchtlingskonvention wurde ursprünglich für Europa gemacht und entstand vor dem Hintergrund der europäischen Erfahrung. Deswegen ist sie für uns in Europa Mahnung und Ansporn zugleich, den europäischen Flüchtlingsschutz zu verbessern und zu verstärken.
Neue Fluchtgründe
tagesschau.de: Nun sind wir 70 Jahre weiter - Fluchtursachen haben sich auch in ihrer Dimension verändert, es sind neue Fluchtgründe hinzugekommen. Was würde man heute versuchen, in eine solche Konvention zusätzlich hineinzuschreiben?
Bendel: Das ist eine hypothetische Frage. Dennoch ist offenkundig, dass viele Menschen sich auf schwierige und gefährliche Wege begeben, weil sie etwa vor Armut oder anderen Verfolgungsgründen fliehen, die nicht in der GFK genannt werden. Die GFK benennt zum Beispiel nicht explizit die Flucht vor Kriegen. Zudem haben wir heute wahrscheinlich viele Klimaflüchtlinge - ein weiterer Fluchtgrund, den die GFK nicht aufführt und der deshalb nicht anerkannt ist. Die GFK jedoch in der aktuellen weltpolitischen Situation aufzuschnüren, könnte nach hinten losgehen und dazu führen, dass man den Flüchtlingsbegriff nicht erweitert, sondern verwässert.
tagesschau.de: Würde man heute versuchen, auch einen Verteilmechanismus mit aufzunehmen, den die GFK nicht vorsieht?
Bendel: Es mangelt bereits an Solidarität in Europa, es fehlt ein Verteilungsmechanismus - das ist die Krux, warum wir schon in Europa beim Flüchtlingsschutz nicht weiterkommen, geschweige denn auf globaler Ebene. 86 Prozent der Flüchtlinge leben in Ländern des globalen Südens. Deshalb ist es sehr wichtig, dass diese Erstaufnahmestaaten starke Unterstützung erfahren, um dort die Bedingungen für die Aufnahme von Flüchtlingen und ihre Integrationschancen zu verbessern. Und es ist wichtig, dass wir weltweit das Resettlement und andere staatlich gesteuerte Aufnahmeprogramme quantitativ und qualitativ ausbauen. Sie ermöglichen eine reguläre Einreise von Flüchtlingen mit besonderer Schutzbedürftigkeit.
Probleme mit der Umsetzung - in Europa
tagesschau.de: Lebt die EU den Geist der Konvention?
Bendel: Das Gemeinsame Europäische Asylsystem bezieht sich in Richtlinien und Verordnungen explizit auf die Genfer Flüchtlingskonvention. Und wir haben ein Gerichtswesen, das sich immer wieder explizit auf die GFK beruft, insbesondere der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.
Aber dieses Papier muss mit Leben gefüllt werden, und hier gibt es bei der Umsetzung der grundlegenden Prinzipien der GFK an einigen Stellen Probleme. Das beginnt bei der Frage, ob Flüchtlinge gerettet werden sollen. Es geht weiter mit den Aufnahmezentren an den europäischen Außengrenzen, in denen die Lage vielfach menschenunwürdig ist und wo die Asylverfahren unzureichend sind. Schutzsuchende werden sogar gewaltsam zurückgedrängt, bevor geprüft wird, ob ihnen Gefahr droht.
Diese sogenannten Pushbacks durch einige EU-Staaten und die unzureichende Verfolgung von Grundrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen stehen zurecht in der Kritik. Pushbacks verstoßen gegen das Grundprinzip der GFK - das Gebot der Nicht-Zurückweisung. Die GFK legt ganz klar fest: Menschen dürfen nicht in Staaten zurückgebracht werden, in denen ihnen Folter oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen.
tagesschau.de: In anderen Worten: Die EU vergeht sich am Geist der Genfer Konvention?
Bendel: Man muss die EU an ihre Verpflichtungen erinnern. Die Welt schaut auf die Union. Über kurz oder lang untergraben Pushbacks das europäische Asylrecht, sie untergraben Grundrechte und das Völkerrecht. Die Bilder von Pushbacks sind weltweit sichtbar. Darunter leidet die Glaubwürdigkeit der EU auch gegenüber anderen Staaten, die sie ihrerseits zur Einhaltung von Menschen- und Flüchtlingsrechten auffordert.
tagesschau.de: Aber es sieht nicht danach aus, als sei die EU bereit, zu einer anderen Flüchtlingspolitik zu kommen?
Bendel: Wir müssen hier unterscheiden, auf welche Akteure wir schauen. Das Europäische Parlament hat immer wieder eindringlich die Einhaltung der Flüchtlingsrechte angemahnt, und auch die Europäische Kommission bezieht sich immer wieder auf die Flüchtlingskonvention. Es sind einzelne Mitgliedstaaten, die sich nicht solidarisch zeigen - mit dem Ergebnis, dass sich die Mitgliedstaaten untereinander nur auf Verfahren an den Außengrenzen einigen können, nicht aber auf eine bessere Behandlung der Flüchtlinge im Inneren.
Dabei enthält die GFK klare Prinzipien, welche Rechte Flüchtlingen zukommen, wenn sie aufgenommen worden sind. Erwerbstätigkeit, Unterkunft, weiterführende Bildung - hier stellt die GFK Flüchtlinge Ausländern im Allgemeinen gleich. Und auch bei der Religionsfreiheit, der Schulbildung, der öffentlichen Fürsorge, der sozialen Sicherheit werden Personen mit Flüchtlingsstatus grundsätzlich den Staatsangehörigen gleichgestellt. Daran muss man etliche Mitgliedstaaten heute erinnern.
Es mangelt an Willen oder Mitteln
tagesschau.de: Gibt es Länder, die das besser machen?
Bendel: Es gibt Länder im globalen Süden, die Flüchtlingen zumindest auf dem Papier mehr Rechte gewährleisten, die den Flüchtlingsstatus auf Personen ausweiten, die vor Krieg fliehen. Das ist in den regionalen Flüchtlingskonventionen der afrikanischen Staaten und in der lateinamerikanischen Erklärung von Cartagena der Fall. Die einzelnen Länder haben aber oft nicht die Mittel, das umzusetzen.
tagesschau.de: Die EU dagegen hätte sie...
Bendel: Und deshalb sollte der 70. Jahrestag der Genfer Flüchtlingskonvention Mahnung und Ansporn sein, dass Deutschland und die EU sich nachhaltig und verlässlich zu einem besseren Flüchtlingsschutz verpflichten - in der EU und weltweit.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de