Die Polizei untersucht den Ort, an dem im ostpolnischen Dorf Przewodow nahe der Grenze zur Ukraine bei einem Raketenangriff zwei Menschen getötet wurden.
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Raketeneinschlag in Polen Was bekannt ist - und was nicht

Stand: 16.11.2022 21:15 Uhr

Nach dem Einschlag einer Rakete in Polen wird weiter ermittelt. Sowohl die NATO als auch Polen halten einen gezielten Angriff für unwahrscheinlich. Was bekannt ist - und was nicht.

Wo schlug die Rakete ein?

Die Rakete schlug am Dienstagnachmittag auf dem Gelände eines landwirtschaftlichen Betriebs in Przewodow ein - einem Dorf ganz im Osten des Landes, keine zehn Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt. Die Rakete traf eine Trocknungsanlage für Getreide in der Nähe einer Schule, wie Anwohner laut der Nachrichtenagentur AFP berichteten. Zwei Männer im Alter von etwa 60 Jahren wurden getötet. Die Explosion ereignete sich, während Russland mehrere Städte in der gesamten Ukraine bombardierte.

Wer hat die Rakete abgefeuert?

Die Ermittlungen laufen noch. Weder die NATO noch Polen gehen aber von einem gezielten Angriff aus. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte, man habe keine Hinweise darauf, dass der Raketeneinschlag ein vorsätzlicher Angriff war. Nach vorläufigen Analysen sei der Vorfall wahrscheinlich durch eine ukrainische Flugabwehrrakete verursacht worden, die gegen russische Angriffe mit Marschflugkörpern eingesetzt worden sei.

Trotzdem sah Stoltenberg die Verantwortung letztlich bei Russland. Er betonte: "Das ist nicht die Schuld der Ukraine." Der wahre Grund für den Vorfall sei der russische Krieg gegen die Ukraine. Die Ermittlungen seien weiter im Gange. Es gebe aber keine Hinweise, dass Russland offensive militärische Aktionen gegen die NATO vorbereite.

Kurz zuvor hatte auch Polens Präsident Andrzej Duda gesagt, es gebe "nichts, absolut nichts", was auf einen absichtlichen Angriff auf Polen hindeute. Es gebe auch keine Beweise dafür, dass die Rakete von Russland abgefeuert worden sei, sondern es handele sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine ukrainische Flugabwehrrakete.

Was ist über die Rakete bekannt?

Die Rakete gehört nach Angaben der polnischen Regierung zum Flugabwehrsystem des Typs S-300. Am Ort der Explosion seien Trümmer eines solchen Flugabwehrgeschosses gefunden worden, schrieb Polens Justizminister Zbigniew Ziobro auf Twitter. Dieses werde sowohl von der russischen als auch von der ukrainischen Armee eingesetzt. "Vor Ort arbeitet ein Team aus polnischen Staatsanwälten und technischen Sachverständigen. Auch amerikanische Experten waren dort." Das Gelände werde mit 3D-Technik gescannt. Auch Joe Biden soll zuvor von einer solchen Rakete gesprochen haben.

Das polnische Außenministerium hatte am Dienstagabend von einer "Rakete aus russischer Produktion" gesprochen. Das System S-300 ist sowjetischer Bauart, heute aber auch wesentlicher Bestandteil der ukrainischen Flugabwehr gegen die russischen Angriffe. Allein am Dienstag feuerte Russland nach Kiewer Zählung mehr als 90 Raketen und Marschflugkörper ab.

Polens Regierungschef Morawiecki sagte, die bisherigen Erkenntnisse ließen mit hoher Wahrscheinlichkeit darauf schließen, dass es zu der Explosion in Przewodow in der Folge eines Abschusses einer russischen Rakete gekommen sei. Danach sei dann eine in der Sowjetunion hergestellte Flugabwehrrakete, die sich in ukrainischem Besitz befunden habe, auf polnisches Gebiet gefallen.

Was sagt Russland zu dem Vorfall?

Moskau bestritt schnell und energisch einen russischen Angriff und bezeichnete die Angaben polnischer Medien über den Vorfall als bewusste Provokationen. Die Berichte hätten das Ziel, die Situation zu eskalieren, zitierte die Nachrichtenagentur Interfax das Verteidigungsministerium. Es seien keine Ziele im ukrainisch-polnischen Grenzgebiet beschossen worden.

Später warf der Sprecher des Präsidialamts, Dmitri Peskow, einigen Ländern grundlose Vorwürfe vor. "Wir haben eine weitere hysterische, wahnsinnige russophobe Reaktion erlebt, die nicht auf echten Fakten beruht." US-Präsident Biden dagegen habe in seinen Reaktionen auf die Explosion Zurückhaltung gezeigt. "Ich möchte Sie noch einmal einladen, auf die eher zurückhaltende Reaktion der Amerikaner zu achten, die im Gegensatz zu der absolut hysterischen Reaktion der polnischen Seite und einer Reihe anderer Länder steht", sagte Peskow.

Polen mit Przewodow und Ukraine

Was sagt die Ukraine?

Auch wenn die explodierten Teile wahrscheinlich von einer ukrainischen Flugabwehrrakete stammen, macht die Ukraine Russland für die Todesopfer in Polen verantwortlich. "Für die steigenden Risiken in angrenzenden Ländern ist allein Russland verantwortlich", schrieb der Berater im ukrainischen Präsidentenamt, Mychajlo Podoljak, auf Twitter.

Kiew bat auch um Zugang zur Einschlagsstelle in Polen. Die Ukraine strebe eine gemeinsame Untersuchung des Vorfalls an und wolle Einsicht in Informationen, aufgrund derer westliche Länder zu dem Schluss kämen, dass es sich um eine ukrainische Abwehrrakete gehandelt habe, sagt Olexij Danilow, Sekretär des nationalen Sicherheitsrats der Ukraine.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte zunächst gesagt, der Raketeneinschlag sei eine "Botschaft Russlands an den G20-Gipfel" gewesen. Am Mittwochabend äußerte er in einem TV-Interview noch seine Zweifel, dass es sich um ein ukrainisches Geschoss gehandelt haben soll. "Ich denke, dass es eine russische Rakete war - gemäß dem Vertrauen, das ich zu den Berichten der Militärs habe", unterstrich Selenskyj.

Den ukrainischen Daten zufolge passe von insgesamt 25 russischen Raketenschlägen auf die Westukraine eine zeitlich mit dem Einschlag in Polen zusammen. Zudem stellte er die Frage: "Kann ein Krater mit einem Durchmesser von 20 Metern und einer Tiefe von fünf Metern durch Trümmer verursacht worden sein oder nicht?" Er forderte den Einsatz einer gemeinsamen Untersuchungskommission und Zugang zu den vorhandenen Daten. "Kann man Fakten oder irgendwelche Beweise von den Partnern erhalten?", fragte er.

Sollte sich tatsächlich herausstellen, dass eine ukrainische Rakete für den Tod von zwei Polen verantwortlich war, stellte Selenskyj eine Entschuldigung in Aussicht. Darüber hinaus betonte er, die Ukraine sei die "reale Luftabwehr von ganz Osteuropa". Dies werde von den Partnern nicht genug gewürdigt.

Wie reagierte Polen auf den Vorfall?

Polen versetzte am Abend nach dem Einschlag Teile seiner Streitkräfte in erhöhte Bereitschaft. Warschau bestellte zudem den russischen Botschafter ein und alarmierte die NATO. Nachdem zunächst geprüft werden sollte, ob es Gründe gebe, die Verfahren nach Artikel 4 des NATO-Vertrags einzuleiten, ist die Regierung in Warschau nach den neuesten Erkenntnissen inzwischen aber davon abgerückt. Die meisten bislang gesammelten Beweise deuteten darauf hin, dass "die Auslösung von Artikel 4 dieses Mal vielleicht nicht notwendig sein wird", sagte Regierungschef Mateusz Morawiecki.

Artikel 4 sieht Beratungen der Nato-Staaten vor, wenn einer von ihnen die Unversehrtheit seines Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die eigene Sicherheit bedroht sieht. Der Artikel wurde NATO-Angaben zufolge seit der Gründung des Bündnisses 1949 sieben Mal in Anspruch genommen - zuletzt am 24. Februar, dem Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine.

Wie reagieren die Verbündeten Polens?

Die Staats- und Regierungschefs der großen westlichen Demokratien erfuhren von dem Vorfall beim G20-Gipfel auf Bali. Am Morgen danach berief US-Präsident Biden eine Krisensitzung ein.

Die westlichen Staats- und Regierungschefs erklärten ihre Solidarität mit Polen, warnten jedoch vor voreiligen Schlüssen, solange die Umstände nicht vollständig geklärt seien. In einer Erklärung hieß es: "Wir bieten Polen unsere volle Unterstützung und Hilfe bei den laufenden Ermittlungen an." Zugleich wurde Russland für "barbarische Angriffe" verantwortlich gemacht. Nach Informationen der Nachrichtenagentur dpa teilte Biden den anderen Staats- und Regierungschefs von NATO- und G7-Staaten bereits bei dem Treffen mit, dass es sich bei dem Geschoss wahrscheinlich um eine Flugabwehrrakete aus der Ukraine handele.

Bundeskanzler Olaf Scholz mahnte eine sorgfältige Aufklärung an. "Das ist ein schrecklicher Vorfall, und es ist jetzt notwendig, dass sorgfältig aufgeklärt wird, wie es dazu gekommen ist, dass diese Zerstörungen dort angerichtet werden konnten", sagte er nach Angaben von Regierungssprecher Steffen Hebestreit am Rande des G20-Gipfels auf Bali. Im Interview mit der ARD sagte Scholz, "da sollen keine Gerüchte in die Welt gesetzt werden, sondern klare Fakten das Ergebnis dieser Untersuchung sichtbar werden lassen".

Was regelt Artikel 5?

Der Raketeneinschlag hatte zunächst Befürchtungen eines sogenannten Bündnisfalls nach Artikel 5 des NATO-Vertrags ausgelöst. In diesem Artikel ist geregelt, dass die NATO-Staaten einen bewaffneten Angriff gegen einen oder mehrere Partner als Angriff gegen alle ansehen. Daraus ergibt sich die Verpflichtung, Beistand zu leisten.

Artikel 5 ist erst ein einziges Mal aktiviert worden - nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA. Dies führte dazu, dass Deutschland und andere NATO-Staaten sich am Krieg gegen die Taliban und die Terrororganisation Al-Kaida in Afghanistan beteiligten.

tagesschau live: Bundeskanzler Scholz im ARD-Interview

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Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 16. November 2022 um 09:00 Uhr.