70 Jahre EuGH Ein Gericht für 447 Millionen Menschen
Egal ob Vorratsdatenspeicherung, Pkw-Maut oder Matratzentest - seit 70 Jahren entscheidet der Europäische Gerichtshof in Luxemburg, wie EU-Recht ausgelegt wird. Und verteidigt damit viele Freiheiten der Europäer.
Stefanos Krassas ist in seinem Element. Im Raum direkt hinter dem großen Sitzungssaal holt der Gerichtsdiener die Robe des Präsidenten aus dem Schrank und bereitet eine Verhandlung vor. Die Farbe "bordeauxrot" habe ein früherer deutscher Richter vorgeschlagen, erzählt er auf französisch. Der Schnitt der Roben stamme aber aus den Niederlanden.
International geht es zu am Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg. Krassas ist einer von über 2200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im riesigen Hauptgebäude mit den drei goldfarbigen Türmen auf dem Luxemburger Kirchberg. Alle 27 EU-Staaten stellen hier jeweils eine Richterin oder einen Richter. Zu Beginn, vor 70 Jahren, war alles noch viel kleiner.
Am Anfang ging es um Kohle und Stahl
Damals gab es noch keine Europäische Union so wie heute. Die "Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl" - auch "Montanunion" genannt - mit sechs Mitgliedern war als Reaktion auf den Zweiten Weltkrieg geschaffen worden. Für diese Gemeinschaft - bestehend aus den Benelux-Staaten, Deutschland, Frankreich und Italien - wurde 1952 der Gerichtshof gegründet.
Auch heute noch sei die EU und mit ihr der EuGH ein Friedensprojekt - gerade in der aktuellen Situation, sagt EuGH-Präsident Koen Lenaerts, im Gespräch mit der ARD-Rechtsredaktion. "Wir müssen die liberale Demokratie, den Rechtsstaat und die Achtung der Grundrechte unter allen Umständen stärken", so der Juraprofessor aus Belgien.
Bosman-Urteil revolutioniert die Fußballwelt
Aus der Montanunion wurde 1957 die "Europäische Wirtschaftsgemeinschaft". Seitdem sind die "Grundfreiheiten" ein zentraler Baustein der europäischen Verträge. Sie regeln den freien Verkehr von Waren, von Dienstleistungen und gewähren Arbeitnehmerfreizügigkeit. Bürgerinnen und Bürger, aber auch Unternehmen aus anderen Mitgliedsstaaten dürfen nicht diskriminiert werden, wenn es um grenzüberschreitende Themen geht.
Mit einem solchen Fall ist der EuGH bekannt geworden und ist es bei Fußballvereinen und -fans bis heute: das "Bosman-Urteil" von 1995. Ablösesummen nach einem ausgelaufenen Vertrag? Geht nicht, sagte der EuGH. Das sei ein Verstoß gegen das Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit.
Wenn heute zu lesen ist, ein Bundesligaprofi wechsele ein Jahr vor Ende des Vertrags, damit sein Verein noch eine Ablösesumme kassieren kann, geht das auf den Gerichtshof in Luxemburg zurück.
Schwerpunkt Verbraucherrechte
Die Aufgabe des EuGH ist es, zu entscheiden, wie EU-Recht ausgelegt wird. Das klingt kompliziert, spielt aber oft mitten im Leben. Der Gerichtshof arbeitet dabei in einer Art Ping-Pong-Spiel mit den Gerichten der Mitgliedsstaaten zusammen.
Ein Beispiel: Ein Kunde in Deutschland hat online eine Matratze bestellt. Nach dem Probeliegen möchte er sie aber zurückgeben und beruft sich auf sein Widerrufsrecht von 14 Tagen beim Kauf im Internet. Der Verkäufer lehnt das ab. Bei Hygieneprodukten ist ein Widerruf laut Gesetz ausgeschlossen, so seine Argumentation.
Die Klage landet am Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe. Die Regeln in diesem Streit basieren auf EU-Recht. Aber es ist unklar, wie sie auszulegen sind. Deshalb legt der BGH dem EuGH die Frage vor, ob man die online bestellte Matratze nach dem Probeliegen zurückgeben darf. Der EuGH antwortet in diesem Fall "ja". Der BGH kann abschließend über die Klage entscheiden.
So entscheidet der EuGH in Luxemburg seit Jahrzehnten übers Kaufen, Reisen, Arbeiten oder über Diskriminierung wegen der Religion sowie wegen des Geschlechts.
Grenzen für Vorratsdatenspeicherung
Aber auch die EU-Kommission oder ein Mitgliedsstaat können klagen. Zum Beispiel gegen ein anderes EU-Land, wenn der Verdacht besteht, das es gegen EU-Recht verstoßen hat. Das wird "Vertragsverletzungsverfahren" genannt.
Ex-Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer und sein Vorgänger Alexander Dobrindt haben damit Erfahrung. 2019 entschied der EuGH nach einer Klage Österreichs und der Niederlande, dass die geplante deutsche Pkw-Maut eine Diskriminierung von Bürgerinnen und Bürgern aus anderen EU-Staaten sei und deshalb gegen EU-Recht verstoße. Ein Urteil, dass in Deutschland hohe politische Wellen schlug.
Ein wahrer Dauerbrenner ist das Thema Datenschutz im Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Freiheit. Das deutsche Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung verstoße in der bisherigen Form gegen EU-Recht, entschied der Gerichtshof im September 2022. In engen Grenzen sei die Vorratsdatenspeicherung aber zulässig, etwa im Kampf gegen Terrorismus. Auch ein Speichern von IP-Adressen für Ermittlungen in Sachen sexualisierter Gewalt gegen Kinder sei erlaubt.
Konflikt mit dem Bundesverfassungsgericht
Das Verhältnis des EuGH zu den Gerichten der Mitgliedsstaaten ist in der Regel kooperativ. Manchmal kommt es jedoch zu Konfrontationen. Wie im Mai 2020 zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem EuGH. Das Karlsruher Gericht hatte ein Urteil über das Staatsanleihen-Kaufprogramm PSPP der Europäischen Zentralbank gesprochen.
Nach Einschätzung des Bundesverfassungsgericht überschritt die EZB mit diesem Programm ihre Kompetenzen, machte also mehr, als sie gemäß den EU-Verträgen darf. Der Vorwurf aus Karlsruhe lautete: Der EuGH habe die EZB nicht streng genug kontrolliert. Sein Urteil habe deshalb in diesem Fall für Deutschland keine Gültigkeit. Die EU-Kommission leitete daraufhin ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland ein, das inzwischen wieder eingestellt wurde.
Wogen geglättet
Das Karlsruher Urteil habe er sehr bedauert, sagt EuGH-Präsident Lenaerts zweieinhalb Jahre später. Denn schon kurz danach hätten die Premierminister von Polen und Ungarn gesagt: "Wenn Deutschland das im Fall der EZB machen kann, dann können wir das bei den EuGH-Urteilen zum Thema Rechtsstaat machen." Auch wenn dieser Vergleich juristisch nicht richtig sei, ergänzt Lenaerts.
Die Wogen haben sich aber im Jubiläumsjahr - zumindest nach außen hin - wieder geglättet. Drei Tage lang treffen sich seit Sonntag Richterinnen und Richter der obersten Gerichte aller Mitgliedsstaaten zum Austausch mit dem EuGH im Luxemburger Gerichtsgebäude. Ihnen dürfte dabei bewusst sein: Ein Streit um das "letzte Wort" hat selten Gewinner, gerade in stürmischen Zeiten für die Justiz.