Interview mit dem Kommunikationsexperten Jarren Warum versteht niemand die EU?
Der Vertrag von Lissabon soll die EU demokratischer machen. Die Iren nahmen ihn trotzdem erst bei der zweiten Volksabstimmung an. Viele gaben an, sie hätten den Vertrag schlicht nicht verstanden. Warum schafft es die EU nicht, sich ihren Bürgern zu erklären? Schuld sind vor allem die Nationalstaaten, sagt der Kommunikationsexperte Otfried Jarren.
tagesschau.de: Die Iren haben den Vertrag von Lissabon in der ersten Volksabstimmung abgelehnt. Sie waren die einzigen, die in einem Referendumg die Möglichkeit dazu hatten. Experten gehen davon aus, dass auch die Bevölkerung in anderen EU-Staaten Nein sagen würde, wenn sie die Möglichkeit dazu hätte. Haben die Bürger nicht vielleicht Recht mit ihrer Skepsis?
Otfried Jarren: Einerseits sicher ja, weil es um sehr komplizierte Prozesse geht, die man nicht so einfach erklären und verstehen kann. Andererseits haben sie nicht Recht, weil der Vertrag von Lissabon dazu da ist, die Handlungsfähigkeit der EU zu erhöhen und die EU demokratischer zu machen – und das ist eigentlich im Sinne der EU-Bürger.
tagesschau.de: Warum kommt das bei den Bürgern dann nicht an?
Jarren: Zum einen ist das Interesse der Bürger an Europa relativ gering, was man zum Beispiel an der durchweg niedrigen Beteiligung bei Europa-Wahlen sieht. Auch das Wissen darüber, wie die EU funktioniert, ist nur relativ spärlich vorhanden. Und genau um die Funktionsweise der EU geht es ja im Vertrag von Lissabon. Und ganz wesentlich ist, dass die Nationalstaaten oft gar kein Interesse daran haben, ihren Bürgern zu erklären, wie die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Ländern und der EU tatsächlich funktioniert.
Nationalstaaten sind schuld am schlechten EU-Image
tagesschau.de: Wie meinen Sie das?
Jarren: Die Nationalstaaten benutzen die Politik der EU eben auch für ihre Zwecke. Entscheidet die EU etwas, das sich bei den Wählern gut verkaufen lässt – zum Beispiel im Bereich Verbraucherschutz – wird das gerne als eigene Entscheidung verkauft. Geht es um unpopuläre Entscheidungen, die zum Beispiel mehr Bürokratie verursachen oder den Wettbewerb verschärfen, wird darauf verwiesen, dass es sich um eine EU-Entscheidung handelt, gegen die man nichts machen könne. Tatsache ist aber, dass die Nationalstaaten diesen Entscheidungen zuvor in der Regel zugestimmt haben. Auf diese Weise entsteht das Image des Superstaates in Brüssel, gegen den man machtlos ist.
tagesschau.de: In Umfragen haben viele Iren angegeben, dass sie einfach nicht verstanden haben, was der Vertrag von Lissabon bedeutet. Was macht die EU falsch in der Vermittlung?
Otfried Jarren ist Professor für Kommunikationswissenschaften an der Universität Zürich. Er forscht und publiziert hauptsächlich zu den Themen Kommunikations- und Medienpolitik sowie politische Kommunikation.
Jarren: Es ist für die EU sehr schwierig, solche durchschlagende Informationskampagnen zu organisieren, wie das zum Beispiel Nationalstaaten können. Nehmen Sie zum Beispiel die Kampagnen gegen Rechtsradikalismus oder die Parteien mit ihren Werbespots vor Wahlen. Die EU ist kein Staat und hat schlichtweg nicht das Recht dazu, den Nationalstaaten solche Kampagnen aufzuzwingen. Sie muss sich darauf verlassen, dass die Länder das, was sie im EU-Rahmen beschließen auch entsprechend kommunizieren. Und das ist schwierig, denn die Medien und die Art, wie Probleme wahrgenommen werden, sind immer noch nationalstaatlich geprägt. Und selbst wenn die EU alles Geld in die Hand nehmen und versuchen würde, die Kommunikation in eigener Sache zu übernehmen - über die Nationalstaaten hinweg - käme sie am Ende als Institution nicht besser weg.
tagesschau.de: Wenn ich Sie richtig verstanden haben, hat die EU also keinen Fehler in der Vermittlung gemacht. Also hätte die irische Regierung einen besseren Job machen müssen?
Jarren: Ja. Denn stellen Sie sich vor, die EU würde jetzt versuchen, überall in Europa Spots in eigener Sache zu senden, dann würde wieder der Eindruck von dem "Moloch aus Brüssel" entstehen. Die Kampagne würde als Propaganda empfunden werden und wäre eher kontraproduktiv.
"Es gibt keine europäische Öffentlichkeit"
tagesschau.de: Aber die EU hat doch dennoch offensichtliche Vermittlungsdefizite: Die Web-Seiten sind unübersichtlich, es ist schwierig, Antworten auf konkrete Fragen zu erhalten, man weiß nicht, wer zuständig ist...
Jarren: Da kann man sicher noch einiges verbessern. Aber das Problem für die EU ist natürlich, dass in den verschiedenen Staaten verschiedene Themen interessieren. In Deutschland interessiert man sich zum Beispiel an einem Tag X dafür, ob die EU Glühbirnen verbietet oder nicht. Das muss aber in Italien, Bulgarien oder Irland noch längst nicht interessieren. Dort sind andere Themen wichtig, die wiederum in Deutschland keine Relevanz haben. Es gibt keine europäische Öffentlichkeit und deswegen ist es für die EU auch sehr schwer ihre Kommunikationspolitik auszurichten.
tagesschau.de: Aber was müsste die EU denn tun, um ihre Bürger zu erreichen?
Jarren: Ich fürchte, da kann man mit Kommunikationspolitik allein nicht so viel machen. Ich glaube, die Bürger identifizieren sich mit der EU dann, wenn sie eigene Ziele definiert und verfolgt, zum Beispiel, indem sie eine eigenständige Außenpolitik betreibt, indem sie es schafft, Konflikte oder Kriege wie den in Ex-Jugoslawien, selbst zu regeln. Das könnte so etwas wie ein Band, eine stärkere Identifikation herstellen. Es könnte auch dadurch passieren, dass man sich abgrenzt, zum Beispiel bei der Frage des Beitritts der Türkei oder im Verhältnis zum Islam. Das sind durchaus heikle Fragen, aber sie könnten die Ausbildung einer europäischen Identität stark beeinflussen.
Das Interview führte Sabine Klein, tagesschau.de