Brexit-Streit Vor und zurück
Mit einem Durchbruch beim Brüsseler Brexit-Dinner rechnet heute ernsthaft kaum jemand. Viel hängt davon ab, welche neuen Vorschläge Theresa May auf den Tisch legt. Die Kanzlerin gab sich vorab optimistisch.
Das zentrale Gipfelthema steht in Brüssel gar nicht auf der Tagesordnung: Über den Austritt Großbritanniens beraten die 27 verbleibenden EU-Staaten nicht in offizieller Runde am Donnerstag, sondern schon beim informellen Essen am Vorabend - erst mit der britischen Premierministerin Theresa May, dann ohne sie.
Bundeskanzlerin Angela Merkel schürte vor ihrem Abflug noch einmal im Bundestag Hoffnung, trotz aller Differenzen zwischen London und Brüssel einen geordneten Brexit zu erreichen. "Die Chance, rechtzeitig ein gutes und tragfähiges Abkommen hinzubekommen, ist nach wie vor da. Und es liegt ja im Interesse unserer Beziehungen zu Großbritannien, im Interesse der Wirtschaft - gerade der Europäische Automobilverband hat heute nochmal einen Appell an uns gerichtet - und natürlich auch im Interesse der Menschen in unseren Ländern."
Weiterhin ungeklärt: die Irlandfrage
Zu 90 Prozent sei das Austrittsabkommen bereits fertig, heißt es aus dem Europäischen Rat. Nur die Irlandfrage bleibt ungeklärt: Wie soll künftig die Grenze aussehen, zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem britischen Nordirland, das nicht länger zur Europäischen Zollunion gehören soll? Entstehen Schlagbäume und Wachtürme dort, wo der Nordirlandkonflikt erst durch den Abbau von Grenzen befriedet wurde?
Merkel sagte dazu im Bundestag: "Hierbei geht es nicht nur um die Integrität des Europäischen Binnenmarktes, sondern auch um den Erhalt des Karfreitagsabkommens, das vor 20 Jahren die Gewalt auf der irischen Insel beendet hat. Und die Tücke liegt hier sehr im Detail."
Eine mögliche Lösung: Ein Freihandelsabkommen, zwischen der EU und Großbritannien. Das würde Grenzkontrollen überflüssig machen. Freien Handel wünschen sich beide Seiten, doch ein umfassender Handelsvertrag braucht viel Zeit. Selbst die bereits vereinbarte Post-Brexit-Übergangsphase bis Ende 2020, in der Großbritannien weiterhin Mitglied der EU-Zollunion bleibt, würde kaum ausreichen. EU-Chefunterhändler Michel Barnier wolle daher am Abend vorschlagen, diese Übergangsphase wenigstens um ein Jahr zu verlängern, heißt es aus Diplomatenkreisen.
Rhetorische Pirouetten
Entgegenkommen und Härte: In der heißen Phase des Brexit ist die EU bemüht, unnachgiebig zu wirken und dennoch inhaltlich voranzukommen. Ein politisches Paradox, das Ratspräsident Donald Tusk zu rhetorischen Pirouetten zwingt. "Wir müssen auch sicherstellen, dass wir uns auf den Fall keiner Einigung vorbereiten. Oder dass unsere Einigung von den Parlamenten zurückgewiesen wird. Aber: Die Tatsache, dass wir uns für ein No-Deal-Szenario wappnen, darf uns nicht davon ablenken, alles zu unternehmen, für ein bestmögliches Abkommen aller Beteiligten."
Er braucht dieser Tage rhetorisches Talent: Donald Tusk
Einen Durchbruch verspricht das Brüsseler Brexit-Dinner heute Abend nicht. Aber es kann den Verhandlungsführern beider Seiten neuen politischen Spielraum verschaffen.
Ein fertiges Abkommen inklusive Lösungsansatz für die irische Grenze könnte dann auf einem Sondergipfel Ende November abgesegnet werden. Bevor schließlich alle 27 nationalen Parlamente zustimmen müssen, außerdem das Europaparlament - und das derzeit heillos zerstrittene britische Unterhaus.