
Erdoğans Vorgehen in der Türkei Mit aller Macht gegen den Machtverlust
Istanbuls Oberbürgermeister inhaftiert, Oppositionelle eingeschüchtert: Der türkische Präsident geht immer brachialer gegen seine Gegner vor - wohl aus Angst vor den Wählern. Denn sein Rückhalt schwindet.
Nach dem erneuten Sieg von Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu bei den Kommunalwahlen in Istanbul im vergangenen Jahr war der türkischen Opposition klar: Nun hat man endlich den Herausforderer gefunden, der Präsident Recep Tayyip Erdoğan besiegen kann.
Und als Erdoğans AKP an diesem 31. März 2024 ihre landesweite Mehrheit an die oppositionelle CHP verlor, bekam der türkische Präsident die Gewissheit, dass seine Macht bei demokratischen Wahlen endlich ist.
Jahrelange Inflation: Rückhalt in Bevölkerung geht zurück
Seitdem haben die AKP und ihr so übermächtiger Gründungsvater Erdoğan weiter an Zustimmung in der Bevölkerung verloren. Die jahrelange Inflation, eine Wirtschaft im Niedergang und Arbeitslosigkeit verringern den Wohlstand der Türken.
Katharina Willinger, ARD Istanbul, zur Lage in der Türkei nach Inhaftierung von Oberbürgermeister İmamoğlu
Dass in dieser Situation der Istanbuler Oberbürgermeister İmamoğlu für Erdoğan politisch zur Gefahr geworden ist, hat noch weitere Gründe, meint der Politik- und Wirtschaftswissenschaftler Erol Katırcıoğlu: "Ekrem İmamoğlu ist auf jeden Fall ein guter Manager - er ist ein fähiger Verwalter. Das ist eine seiner Stärken. Zweitens, er kommt aus der Schwarzmeerregion."
Sein Nachname İmamoğlu - was wörtlich übersetzt "Sohn des Imams" bedeutet, zeige, dass er eine gewisse Nähe zu muslimischen Wählern habe. Zudem habe er seine Beziehungen zu den Kurden "sehr klug und warmherzig" gehalten. Dadurch habe er auch eine sehr hohe Chance, Stimmen von kurdischen Wählern zu bekommen.
Repression als Instrument der Macht
Der türkische Präsident Erdoğan reagiert auf den drohenden Machtverlust mit Härte und Repressionen. Seit dem Jahreswechsel werden fast täglich bekannte Schauspieler, Journalisten oder einflussreiche Firmenchefs verhaftet.
Auch gewählte Bürgermeister der kurdennahen Oppositionspartei DEM sowie Kommunalpolitiker der größten Oppositionspartei CHP werden ihrer Ämter enthoben, werden angeklagt oder kommen in Haft. Fast immer sind die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft gleichlautend: Korruption, Terrorunterstützung oder Präsidentenbeleidigung.
So traf es Mitte Januar auch den Vorsitzenden der rechtsnationalen, aber Erdoğan-kritischen Zafer-Partei, Ümit Özdağ. Er soll Erdoğan beleidigt haben. Und zuletzt kamen der Istanbuler Oberbürgermeister İmamoğlu und weitere CHP-Angehörige in Untersuchungshaft.
Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen Korruption und den Verdacht der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung sowie Erpressung, Bestechung, Betrug und Manipulation bei Ausschreibungen vor.
Keine unabhängige und freie Justiz
Die Justiz in der Türkei - also auch die immer wieder aktiv vorgehenden Staatsanwaltschaften - sei nach 22 Jahren der AKP-Herrschaft als willfähriges Instrument der Repressionen der Regierung Erdoğan verkommen, glaubt Experte Katırcıoğlu:
Alle Institutionen, die eigentlich unabhängig sein sollten, sind nun staatliche Institutionen geworden. Natürlich sollte die Justiz in der Theorie unabhängig sein, schließlich steht sie für Gerechtigkeit. Aber das war sie nie. Auch früher nicht. Ich erinnere mich an die 1970er- und 1980er-Jahre - schon damals waren die Gerichte nicht gerecht.
Doch heute stelle sich eine ganz andere Frage. "Würde ein Richter, der über Ekrem İmamoğlu entscheidet, den Mut haben, dem Staatsanwalt ins Gesicht zu sagen: 'Nein, ich spiele euer Spiel nicht mit. Dieser Mann hat keine Schuld, ich lasse ihn frei'?"
Das sei "sehr unwahrscheinlich. Extrem unwahrscheinlich. Denn wenn er das täte, würde ihm sofort etwas passieren. Entweder wird er irgendwohin versetzt oder in den Ruhestand gedrängt", sagt Katırcıoğlu.
Neuwahlen als taktisches Kalkül?
Erdoğans Ziel ist der Machterhalt. Doch könnte er bei der nächsten Präsidentschaftswahl nur nach Änderung der Verfassung erneut antreten. Die dafür notwendige Dreifünftelmehrheit im Parlament ist jedoch ungewiss.
Politischen Beobachtern zufolge setzt Erdoğan deshalb auf eine vorgezogene Neuwahl in der Türkei. Denn in dem Fall kann er wieder kandidieren. Hat er bis dahin die gefährlichsten politischen Konkurrenten ausgeschaltet und die noch wenigen kritischen Stimmen in den Medien verstummen lassen, wäre die Wiederwahl zum Präsidenten wohl wahrscheinlich.
Denn noch immer beträgt die Stammwählerschaft der AKP bis zu 35 Prozent. Und auch die Anhänger kleinerer nationalistischer Parteien wollen ihn als starken Führer des Landes.
Europa lässt Erdoğan gewähren
Heftige Kritik aus dem Ausland muss Erdoğan nicht fürchten. Schon EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen setzte bei ihrem Besuch im Dezember 2024 bei den Gesprächen mehr auf Kooperation statt auf Menschenrechte.
Die EU wie auch die NATO stecken in einer tiefen Krise. Da brauchen sie die geostrategisch und militärisch mächtiger gewordene Türkei. Immerhin stellt die Türkei die zweitstärkste Armee der NATO. Und ob im Ukraine-Krieg, bei der Neuordnung des Nahen Ostens, der Zukunft Syriens oder auch beim Thema Flüchtlinge spielt Erdoğans Land eine immer wichtigere und auch aktive Rolle.
Für die Demokratien des Westen scheinen Demokratie und Menschenrechte da zunächst mal zweitrangig - die nützliche Partnerschaft geht vor.
Friedensprozess mit Kurden - ein "Joker"?
Angesichts der Verhaftungen und staatlichen Willkür überrascht die aktuell positive Stimmung bei der kurdischen Minderheit im Land. Doch gibt es einen Grund für die Freude der größten Minderheit der Türkei: Die AKP-Regierung hat einen Friedensprozess mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK angestoßen. Am 27. Februar dieses Jahres verkündete PKK-Gründer Abdullah Öcalan die Absicht, den bewaffneten Kampf aufzugeben und die PKK aufzulösen.
Nach Jahrzehnten der Kämpfe zwischen PKK und dem türkischen Militär mit Tausenden Toten wäre der Frieden für Erdoğan ein historischer Erfolg. Auch könnte dies dem Präsidenten Millionen kurdischer Wählerstimme bringen.
Die Meinung von Murad Bayraktar, WDR, zur Lage in der Türkei
"Eine Art Sultan"
Doch trachtet der türkische Präsident nach weit viel mehr, glaubt Politikwissenschaftler Katırcıoğlu: "Letztendlich ist Erdoğan ein Mann, der in die Geschichte eingehen will - aber nicht als gewöhnlicher Präsident, sondern als eine Art Sultan. Und ehrlich gesagt hatten selbst die osmanischen Sultane nicht so viele Befugnisse wie er heute."
Für einen großen Teil der türkischen Bevölkerung bleibt die Verhaftung des gewählten Istanbuler Oberbürgermeisters İmamoğlu eine Zäsur. Seine Enthebung aus Amt und Politik mit anschließender Haft mache den Türken klar, dass ihre Wählerstimme bedeutungslos geworden sei, mahnen die Kritiker Erdoğans. Die Türkei mutiere Richtung Autokratie - mit Präsident Erdoğan als Herrscher für die Ewigkeit.