Lateinamerika nach Chávez "Das linke Bündnis verliert an Einfluss"
Der Tod des venezolanischen Präsidenten Chávez werde die Machtverhältnisse in Lateinamerika verändern, sagt der Politologe Bert Hoffmann im tagesschau.de-Interview. Vor allem Brasilien profitiere aufgrund seiner wirtschaftlichen Stärke zuungunsten der linksgerichteten Kräfte in der Region.
tagesschau.de: Für sieben Tage ist nach dem Tod von Präsident Hugo Chávez Staatstrauer in Venezuela angeordnet worden. Inwieweit deckt sich die offizielle Trauer mit der in der Bevölkerung?
Bert Hoffmann: Venezuela ist eine polarisierte Gesellschaft, teilt sich in Anhänger und Gegner von Chávez auf. Insofern dürfte die Staatstrauer der Gefühlslage der Anhänger entsprechen. Chávez war gerade für die unteren Schichten eine emotional aufgeladene Figur von hoher Symbolkraft. Sein Tod stellt für seine Anhänger einen dramatischen Verlust dar, für viele einen persönlichen Schicksalsschlag. Auch insgesamt erschüttert er die Gesellschaft und schafft eine große Ungewissheit, wie es in den nächsten Jahren weitergehen wird.
Seit 2011 leitet der Politikwissenschaftler Bert Hoffmann das GIGA Institut für Lateinamerika-Studien in Hamburg. Bereits seit 2003 forscht er dort u.a. zur Legitimität politischer Systeme. Hoffmanns besonderes Interesse gilt dabei der Entwicklung Kubas und dem "Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ in anderen Ländern Lateinamerikas.
Soziale Umwälzung macht Phänomen Chávez aus
tagesschau.de: Was hat Chávez für die Venezolaner bedeutet?
Hoffmann: Venezuela ist ein enorm ölreiches Land. Von diesem Reichtum hat aber lange Zeit nur ein kleiner Teil der Gesellschaft profitiert. Chávez stand für eine Umverteilung des Reichtums, zumal er auch nicht aus der alten Oberschicht stammte. Die armen und mittleren Schichten haben sich in ihm wiedererkannt. Das war und ist eine substanzielle Veränderung, bei aller Rhetorik, die den Vorgang begleitete und überlagerte. Diese soziale Umwälzung hat das Phänomen Chávez ausgemacht, ihn die Massen mobilisieren und Wahlen gewinnen lassen.
tagesschau.de: Wie empfänglich sind die Menschen womöglich für die Verschwörungstheorien, die jetzt die Runde machen?
Hoffmann: Diese Theorien sind dem Moment des Verlustes geschuldet. Ich glaube nicht, dass die Vermutung Bestand haben wird, sein Krebs sei fremd verschuldet. Chávez selbst hat aus seiner Krankheit einen transparenten Prozess gemacht, ist damit sehr offensiv umgegangen. Seine Behandlung in Kuba bis hin zu medizinischen Details war zum Teil publik. Sein Tod kam jetzt nicht überraschend, und er selbst hat das Land seit langem darauf vorbereitet.
Schwieriges Erbe für den Nachfolger
tagesschau.de: Welchem Erbe muss sich Chávez' Nachfolger stellen?
Hoffmann: Kein anderer venezolanischer Politiker verfügt über eine solche Emotionalität wie Chávez. Das gesamte politische System war auf seine Person ausgerichtet. Insoweit ist das Charisma des Anführers kaum auf eine andere Person zu übertragen. Gleichzeitig wird sich diese aber immer an der Ära Chávez messen lassen müssen. die im Rückblick für seine Anhänger als goldene Zeiten erscheinen werden. Dahinter aber haben sich eine Reihe von Wirtschaftsproblemen aufgestaut, nicht zuletzt eine rapide steigende Inflation. Ökonomisch hat Chávez häufig sehr kurzfristig agiert. Es ist also ein sehr schwieriges Erbe.
tagesschau.de: Wird der von Chávez benannte Nicolás Maduro die nächste Wahl gewinnen können?
Hoffmann: Alles spricht dafür, denn der Wahlkampf wird ganz im Zeichen von Chávez stehen. Die Anhänger werden kaum sein Vermächtnis zerstören, indem sie ihm posthum am Wahltag in den Rücken fallen. Dem wird die Opposition wenig entgegen zu setzen haben. In vier, fünf Jahren könnte das anders aussehen. Welches politische Profil Maduro entwickelt, wird sich erst zeigen, wenn er aus Chávez' Schatten heraustritt. Das ist dann der Moment der Wahrheit für einen, der bisher immer vor allem ein loyaler Gefolgsmann war.
Neue Verhältnisse
tagesschau.de: Unter besonderer Beobachtung stand immer das venezolanische Verhältnis zu den USA. Da hat man den Erzfeind beschimpft, dessen Geld für Öl aber gern genommen. Könnte sich dieses Verhältnis jetzt etwas entspannen?
Hoffmann: Das könnte passieren. Aber zumindest am Anfang wird die neue Regierung in Caracas sehr damit beschäftigt sein, die eigenen Reihen geschlossen zu halten. Dafür ist das Fortführen einer radikale Rhetorik gegenüber den USA ausgesprochen nützlich. Caracas könnte sich also "gezwungen" sehen, das alte Konfliktmuster und die Wagenburgmentalität weiter zu pflegen. Auch von den USA ist nicht sofort eine Charmeoffensive mit Substanz zu erwarten. Das wird ein vorsichtiges und langsames Abtasten unter lateinamerikanischer Beobachtung werden.
tagesschau.de: Chávez war ein politisches Schwergewicht in Lateinamerika. Wie sehr wird sich durch den Führungswechsel die Statik in der Region verändern?
Hoffmann: Die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff hat Chávez als großen Lateinamerikaner und großen Freund Brasiliens gewürdigt. Gleichzeitig war immer offenkundig, dass Brasilien und Venezuela auch konkurriert haben. Venezuela verfügte über viel rhetorische Kraft, aber auch über großzügig eingesetzte Öl-Milliarden. Brasilien ist wirtschaftlich aber das weit stärkere Land.
Dem ALBA-Bündnis, das Chávez und Fidel Castro einst aus der Taufe gehoben haben und dem eine Reihe links regierter Staaten Lateinamerikas beigetreten sind, geht mit Chávez' Tod seine treibende Kraft verloren und dürfte an Einfluss verlieren, ohne ganz zu verschwinden. Aber die Führungsrolle Brasiliens in Lateinamerika dürfte künftig unbestritten sein.
Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de