Brexit-Votum "Neuwahlen sind vielleicht der Ausweg"
Politikwissenschaftlerin Tanja Börzel sieht Großbritannien in einer tiefen Krise. Im Interview mit tagesschau.de erklärt sie, warum Neuwahlen eine Möglichkeit sein könnten, aus dem Dilemma herauszukommen. Die EU selbst könne nur abwarten.
tagesschau.de: Die einen in der EU wollen den britischen Austritt möglichst schnell, die anderen sind der Auffassung, dass es jetzt auf ein paar Wochen oder Monate nicht ankommt. Wer hat Recht?
Tanja Börzel: Es ist nachvollziehbar, dass alle gern Klarheit hätten, wie es jetzt mit Großbritannien weiter geht. Alle sind auch davon ausgegangen, dass nach einem Votum für den EU-Austritt dieser Austritt auch zeitnah erklärt wird. Jetzt ist es aber so, dass das Votum Großbritannien in eine derart ernste Krise gestürzt hat, mit der so niemand gerechnet hat. Mehr Druck könnte da kontraproduktiv sein.
Großbritannien braucht eine handlungsfähige Regierung, um überhaupt Austrittsverhandlungen führen zu können. Die EU versucht jetzt, dem Land Zeit zu geben, um seine innenpolitischen Verhältnisse wenigstens ein bisschen zu ordnen.
Die Politikwissenschaftlerin Tanja Börzel lehrt und forscht als geschäftsführende Direktorin am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Studienaufenthalte und Gastprofessuren führten sie nach Florenz und Harvard. Börzel leitet die Arbeitsstelle Europäische Integration.
tagesschau.de: Wäre es nicht sinnvoll, wenn die EU gegenüber Großbritannien geschlossen oder zumindest geschlossener auftritt?
Börzel: Ursprünglich gab es die geschlossene Position, und die lautete: Wenn Austritt, dann aber bitte schnell. Allein Bundeskanzlerin Angela Merkel zögerte – vielleicht auch, weil sie grundsätzlich für Schnellschüsse nicht zu haben ist. Aber wer soll denn den Austritt verhandeln, wenn sich die politische Klasse gerade selbst zerlegt? Insofern findet gerade auf Seiten der EU ein Umdenken statt.
"EU kann nur abwarten"
tagesschau.de: Hätte die EU überhaupt die Möglichkeit, auf die Briten Druck auszuüben?
Börzel: Formale Möglichkeiten kann ich nicht erkennen. Die EU kann nichts anderes tun, als abzuwarten, bis Großbritannien den Antrag auf Austritt stellt. Rein rechtlich ist es so, dass das Ergebnis des Referendums nicht bindend ist. Das Unterhaus als Teil des britischen Parlaments könnte beschließen, das Votum einfach zu ignorieren und den Austritt nicht zu erklären - was im Übrigen der mehrheitlichen Meinung der Abgeordneten entspricht, und zwar parteiübergreifend.
Politisch ist das natürlich extrem problematisch. Deswegen halte ich vorgezogene Neuwahlen für einen möglichen Ausweg aus diesem Dilemma.
tagesschau.de: Was würden Neuwahlen ändern?
Börzel: Als Spekulation ist vorstellbar, dass Konservative wie Sozialdemokraten sich auf das knappe Ergebnis des Referendums berufen. Die Parteien könnten damit argumentieren, dass eine Online-Petition für den EU-Verbleib großen Zuspruch findet und dass das Vereinigte Königreich droht zu zerfallen. In dieser Situation sei das Unterhaus nicht in der Lage, eine Austrittserklärung zu unterstützen. Die Neuwahlen würden dann die Entscheidung über die Abgeordneten mit der Entscheidung über "In Or Out?" verbinden.
Niemand hat nur im Traum daran gedacht, dass das Referendum das Land, die Parteien, die Regionen und die Generationen derart spaltet. Deswegen kann ich mir vorstellen, dass man diesen Weg nutzt, um die Dinge noch einmal zu überdenken.
tagesschau.de: Parallel zur aktuellen Entwicklung wird eine grundlegende EU-Reform gefordert. Wie müsste die aussehen?
Börzel: Die EU hatte keinen so großen Anteil am Ausgang des Referendums. Die Briten als das mit Abstand EU-skeptischste Land haben nicht nur über den Austritt abgestimmt, sondern vor allem über Zuwanderung und soziale Sicherheit. Diese Parameter sind von der EU natürlich beeinflusst, weil in den letzten viele Zuwanderer aus Osteuropa nach Großbritannien gekommen sind.
Personenfreizügigkeit ist aber eine der vier Grundfreiheiten, auf denen der europäischen Binnenmarkt basiert. Das ist nicht zu ändern, selbst wenn Sie der Kommission jetzt Kompetenzen wegnehmen würden. Auch eine EU-Reform, die Brüssel stärkt, wird den Rechtspopulisten in Großbritannien, Frankreich und anderswo nicht das Wasser abgraben, im Gegenteil. Die EU wird nicht mehr als Teil der Lösung, sondern als Teil des Problems gesehen.
tagesschau.de: Wie konnte es soweit kommen?
Börzel: In nahezu allen Mitgliedsstaaten ist die EU für viele gesellschaftlichen Probleme verantwortlich gemacht worden. Egal, ob es um Zuwanderung, soziale Sicherheit oder den Krümmungsgrad von Gurken ging. Politiker und Politikerinnen haben unpopuläre Entscheidungen gern auf die EU abgewälzt. In der Wahrnehmung der Menschen ist also Brüssel an allem Schuld.
Das funktioniert deshalb gut, weil die europäischen Entscheidungsverfahren tatsächlich sehr intransparent sind. Völlig übersehen wird dabei, dass es die Mitgliedsstaaten beziehungsweise deren Regierungen sind, die in Brüssel an den wesentlichen Entscheidungen beteiligt sind - auch die über den Krümmungsgrad der Gurke. Es sind auch die Mitgliedsstaaten, die die von ihnen getroffenen Entscheidungen umsetzen müssen. Das geschieht aber zum Beispiel in der Flüchtlingsfrage nur ansatzweise. Es gilt also, die Mitgliedsstaaten stärker in die Verantwortung zu nehmen.
Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de