Kritik an belgischen Ermittlern wächst Was lief alles schief in Brüssel?
Die belgische Regierung und die Ermittlungsbehörden geraten wegen der Anschläge von Brüssel zunehmend unter Druck. Beiden werden mehrere schwere Versäumnisse und Pannen im Kampf gegen den Terror vorgeworfen - und es kommen immer neue hinzu. Ein Überblick.
Anfang der Woche zündeten Anhänger der Terrormiliz "Islamischer Staat" mehrere Bomben am Brüsseler Flughafen und in der Metrostation Maelbeek. Dabei wurden 31 Menschen getötet, 300 weitere verletzt. Wie konnte ein solches Attentat passieren, obwohl die Behörden um die Terrorgefahr wussten? Inzwischen stehen schwere Vorwürfe im Raum, wonach die Ermittlungsbehörden und die Regierung gravierende Fehler im Kampf gegen den Terror gemacht haben sollen.
Türkei warnte Brüssel vor Attentätern
So sollen die Behörden eine Warnung der Türkei vor den späteren Attentätern - den Brüdern Khalid und Ibrahim El Bakraoui - nicht ernst genommen haben. Die beiden Männer hatten sich am Dienstag am Brüsseler Flughafen und an der U-Bahn-Station Maelbeek in die Luft gesprengt. Kurz darauf meldete sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan zu Wort: Er erklärte, sein Land habe Ibrahim El Bakraoui im vergangenen Jahr abgeschoben und die belgischen Behörden vor ihm gewarnt. Diese hätten die Warnung jedoch ignoriert.
Nach Informationen der Nachrichtenagentur Reuters soll der Terrorist später erneut in die Türkei eingereist und abermals des Landes verwiesen worden sein. Die Redaktion beruft sich dabei auf Verlautbarungen aus türkischen Regierungskreisen. Angesichts dieser Entwicklung wirft die belgische Opposition den Ministern für Inneres und Justiz, Jan Jambon und Koen Geens, vor, das vorbestrafte Brüderpaar nicht scharf genug überwacht zu haben.
Bei der Terrorserie in Brüssel kamen mindestens 31 Menschen ums Leben. Inzwischen steht die Identität von einigen fest. Unter den Toten ist nach Angaben der Polizei eine Deutsche - sie stammt aus Aachen. Britische Behörden teilten mit, ein in Brüssel lebender britischer Computerprogrammierer sei unter den Todesopfern. Die Niederlande meldeten den Tod von drei Landsleuten: eine Frau aus Deventer und ein Geschwisterpaar, das in New York lebte. Zwei US-Bürger wurden getötet. Aus China stammt ein Opfer, ebenso eines aus Frankreich. Auch eine Peruanerin gehört zu den Todesopfern.
Attentäter hätte noch in Haft sitzen können
Justizminister Geens räumte inzwischen Nachlässigkeiten im Umgang mit den Hinweisen aus der Türkei ein. Diese seien innerhalb Belgiens zu langsam weitergegeben worden, bekannte Geens in einem Interview. Erschwerend hinzu kommt, dass sowohl Ibrahim el Bakraoui als auch sein Bruder Khalid wegen Verstößen gegen Bewährungsauflagen eigentlich hätten in Haft sitzen müssen. Hier, so Geens, hätten die Behörden wohl Fehler gemacht.
El Bakraoui war 2010 in Belgien zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt worden und vorzeitig freigekommen - offenbar trotz negativer Beurteilung der Gefängnisdirektion. Hätte er seine Strafe vollständig absitzen müssen, wäre er heute noch in Haft. Stattdessen wurde er im Juni 2015 an der türkisch-syrischen Grenze aufgegriffen und danach ausgewiesen.
* Bei den Anschlägen auf den Flughafen und die U-Bahn starben mindestens 31 Menschen. Rund 300 wurden verletzt.
* Die Anschläge wurden von mindestens vier Personen ausgeführt. Dazu gehören zwei Brüder, deren Namen die Staatsanwaltschaft mit Ibrahim und Khalid Al Bakraoui angibt. Einer habe sich auf dem Flughafen, ein anderer in der Metro in die Luft gesprengt. Der zweite Selbstmordattentäter am Flughafen ist der 24-jährige Najim Laachraoui, der auch an den Anschlägen von Paris beteiligt gewesen sein soll. Die Identität eines dritten Mannes, der mit den anderen beiden Attentätern unterwegs war und gefilmt wurde, ist unklar. Er ist auf der Flucht.
* Zu den Anschlägen bekannte sich die Dschihadistenmiliz "Islamischer Staat".
Hat die Polizei bei Abdeslam bewusst weggesehen?
Ein weiterer Vorwurf bezieht sich auf die Fahndung nach dem mutmaßlichen Paris-Attentäter Salah Abdeslam. Vor seiner Festnahme vor einer Woche konnte sich der Gesuchte vier Monate lang unbehelligt in Brüssel aufhalten - obwohl ihn die Behörden dort vermuteten. Das alleine sorgt in Belgien für großen Unmut.
Darüber hinaus kursieren inzwischen Gerüchte, wonach die Polizei der Stadt Mechelen den Aufenthaltsort des Paris-Attentäters Abdeslam frühzeitig gekannt habe. Sollten diese Informationen stimmen, empört sich Oppositionsführerin Laurette Onkelinx von den Sozialisten, spreche dies für einen "Krieg" im Polizei-Apparat, dem man auf den Grund gehen müsse. Auch stelle sich die Frage, wie diese Regierung das Land vor weiteren Schlägen schützen wolle.
Abdeslam nur einmal verhört?
Auch an dem Verhör von Abdeslam wird Kritik geübt. So soll Abdeslam zwischen seiner Festnahme und den vier Tage später folgenden Anschlägen in Brüssel nur einmal verhört worden sein. Sven Mary, der Rechtsbeistand des 26-jährigen Franzosen, habe dies am Donnerstag bestätigt, berichtete das Nachrichtenportal "Politico".
Laut zwei Quellen aus Ermittlungskreisen gab es demnach gesundheitliche Gründe dafür, dass die Vernehmung nur etwa eine Stunde dauerte. So habe Abdeslam, der bei seiner Festnahme am Freitag leicht am Bein verletzt und anschließend operiert worden war, während des Verhörs in seinem Gefängnis in Brügge "sehr müde gewirkt".
Nicht nach bevorstehenden Anschlägen gefragt
Das Verhör am Samstag habe keinerlei Hinweise auf die bevorstehenden Anschläge in Brüssel ergeben, sagten beide Informanten dem Bericht zufolge. Das habe vermutlich daran gelegen, dass die Ermittler bei der Befragung chronologisch vorgegangen seien und Abdeslam zunächst nur zu den Pariser Anschlägen vom 13. November vernommen hätten.
All diese Ungereimtheiten und Fehlleistungen soll nun auf Beschluss der Mehrheit im Parlament ein Untersuchungsausschuss aufklären. Ein Vorgang mit Seltenheitswert, setzt sich normalerweise doch die Opposition und nicht die Regierung für ein solches Gremium ein. Trotzdem müssen sich Justizminister Geens und Innenminister Jambon auf unangenehme Fragen gefasst machen. Ihr Rücktrittsgesuch immerhin hatte Premier Charles Michel am Donnerstag zurückgewiesen. Ein Zeichen, dass das Mitte-Rechts-Bündnis enger zusammenrückt.
Mit Informationen von Holger Romann, ARD-Studio Brüssel.