Sicherheitskräfte in Belarus "Was bedeutet schon Demokratie?"
In Belarus gehen die Sicherheitskräfte brutal gegen die Proteste vor - obwohl kaum einer von ihnen gern seinen Dienst tut, meinen Experten. Warum ist Lukaschenkos Gewaltapparat so stabil?
Im Sommer vor den Wahlen war "der Drei-Prozent-Sascha" in Belarus ein beliebter Internet-Gag: Gemeint war Alexander Lukaschenko, der in einer Online-Umfrage nur einen Zustimmungswert von drei Prozent erreichte - und sich trotzdem in Staatsmedien zum allseits geliebten "Väterchen" hochjubeln lassen konnte, ohne auch nur Widerspruch zu ernten. "Diese Bereitschaft, das Regime zu unterstützen oder tolerieren ist nicht länger existent", stellt Andrej Jelisejew, Rechercheleiter des Warschauer Think Tanks "EAST", in einer Analyse fest. Dass Lukaschenko sich dennoch an der Macht halten kann, schreibt Jelisejew drei Stützpfeilern zu: der Unterstützung des Kreml, der Machtvertikale in Politik und Verwaltung - und dem enormen Sicherheitsapparat.
Denn seit dem Sommer stehen sich Wochenende für Wochenende zwei Gruppen gegenüber: Abertausende, meist weibliche, Straßendemonstranten - und Maskierte in Uniform, die Menschen in Autos zerren, beschimpfen, schlagen und quälen. Tatsächlich ist die Gemengelage innerhalb der belarusischen Gesellschaft komplizierter, betonen Experten. "Erst seit dem Frühjahr haben die Sicherheitskräfte so viel Macht", sagt der belarusische Politologe Andrej Kasakewitsch, der Direktor des Belarus-Forschungsinstituts "Palitytschnaja Sfera", das in Vilnius sitzt. "Zuvor gab es andere Einflusszentren: Der Bankensektor, die Ministerien, Geschäftskreise und so weiter. Erst durch diese politische Krise sind sie eine so starke Kraft innerhalb des Staats geworden."
Mehr "Silowiki" als andere europäische Staaten
Menschen in Uniform, die quasi außerhalb von Recht und Gesetz agieren können, sich aber darauf berufen, kennt der gesamte postsowjetische Raum: Dort werden sie oft unter dem Begriff "Silowiki" zusammengefasst - vom russischen Wort sila, das "Kraft" oder übertragen "Gewalt" bedeutet. Auch in Belarus gehören sie nicht erst seit Lukaschenkos Amtsantritt 1994 sozusagen zum Alltag: Neben der "Milizija" genannten regulären Polizei gibt es unter anderem die als Bereitschaftspolizei eingesetzte OMON, das Spezialeinsatzkommando SOBR, die Antiterroreinheit "Almas" sowie die paramilitärische Innere Armee. Demonstranten haben bei ihren Aktionen vereinzelt auch Armeesoldaten, Grenzschützer und Mitarbeiter des Geheimdiensts, konkret Agenten des KGB und der Präsidentenwache, gesichtet.
Beobachter schätzen die Zahl der Polizisten pro 100.000 Einwohner um ein Vielfaches höher als in den europäischen Nachbarstaaten an - der Staat Belarus selbst gibt keine vollständigen Daten zur Personalstärke heraus. Bekannt ist, dass zur OMON etwa 1500 Einsatzkräfte gehören, 12.000 weitere zur Inneren Armee. Zu einer effektiven Waffe gegen die 9,5 Millionen Belarusen macht die Sicherheitskräfte also nicht zahlenmäßige Stärke, sondern ihre berüchtigte Gewaltbereitschaft: Die Brutalität, mit der sie seit August gegen die Oppositionelle und Demonstrationsteilnehmer - und Leute, die sie dafür halten - vorgehen, wird von den Belarusen selbst als beispiellos in ihrer Landesgeschichte bezeichnet.
Polizeibeamte fixieren Demonstranten während einer Kundgebung zur Unterstützung von Maria Kolesnikowa.
Die Proteste durch ihren Terror zu zerschlagen, ist dem staatlichen Sicherheitsapparat zwar bisher nicht gelungen - wohl aber hat er die Oppositionellen in ein schon sechs Wochen dauerndes Kräftemessen gezogen. Was die Sondereinheiten dabei umtreibt, rigoros gegen die eigene Bevölkerung vorzugehen, ist den Experten zufolge teils eigene Perspektivlosigkeit, teils Zynismus auas langer Erfahrung mit einem betrügerischen Scheinsystem. "Was bedeutet schon Demokratie für einen gewöhnlichen OMON-Sonderpolizisten? Für ihn besteht sie nur aus ein paar Institutionen, die allesamt 'fake' sind", sagt Kasakewitsch. Auch die Loyalität zu Lukaschenko innerhalb der Spezialeinheiten sei gering - wenngleich es auch stark ideologisierte "Überzeugungstäter" gebe.
Für die meisten sei die Laufbahn bei der OMON eher eine Karrieremöglichkeit: Vorausgesetzt werden nur ein Schulabschluss, körperliche Fitness und der absolvierte Militärdienst, verdienen können die Einsatzkräfte um die tausend Rubel im Monat (umgerechnet etwa 330 Euro, Anmerkung der Redaktion) - kein unattraktives Gehalt in einem Staat, in dem laut Arbeitsministerium der Mindestlohn 375 Rubel und eine Durchschnittsrente 456 Rubel betragen. Zusätzlich gibt es Boni bei guter Führung, eine bezuschusste Unterkunft und günstige Kredite. Damit kann sich auch ein junger Mann vom Land eine Wohnung in der Hauptstadt Minsk leisten.
Fester Korpsgeist oder Ausweglosigkeit?
Doch die Rückversicherung, die das System Lukaschenko durch seine Stabilität den Sicherheitskräften noch anzubieten hat, schrumpft - und durch ihr brutales Vorgehen haben sie sich in der Gesellschaft diskreditiert. Aus der zuvor neutralen bis misstrauischen Einstellung der Belarusen gegenüber allen "Silowiki" sei regelrechter Hass geworden - insbesondere gegen die Sondereinheit OMON, meint Volha Charnysh, Juniorprofessorin für Politikwissenschaft am Massachusetts Institute of Technology. Auch Kasakewitsch meint, der Druck auf die Menschen in Uniform steige.
Die Bilder, auf denen junge Demonstrantinnen bewaffnete Vermummte umarmten, gingen um die Welt - tatsächlich den Dienst quittiert oder sich mit den Demonstranten solidarisiert hat aber kaum einer. Warum, darauf geben die Experten unterschiedliche Antworten: "Ich kann mir vorstellen, dass zwischen ihnen fester Korpsgeist herrscht", drückt Charnysh es aus. Kasakewitsch meint: "Die meisten erfüllen einfach ihre Aufgaben und sehen keine andere Möglichkeit" - auch wenn sie nicht mehr so "motiviert" wie noch vor einem Monat bei der Arbeit seien.
Erpressung durch eigene Vorvergehen
Der Analyst Jelisejew betont, dass gerade ihr grausames Vorgehen die Sondereinsatzkräfte nun zum Weitermachen zwinge: Lukaschenko habe sie dazu gebracht, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen - und dadurch gebrandmarkt und aller Auswege beraubt. Diese erpresserische Taktik sieht er auch in der Machtvertikale am Werk, in der schmutzige Aufgaben wie Wahlfälschung an Loyalisten weitergereicht werden. So werden sie zu Mittätern - und sind selbst am Systemerhalt interessiert, um nicht alles zu verlieren.
Laut der MIT-Professorin Charnysh setzt auch der Geheimdienst KGB verwandte Methoden ein: "Die Rekrutierung durch den KGB geschieht, sobald die Leute auf oppositionellen Demonstrationen festgenommen worden sind - das wissen wir in vielen Fällen von öffentlichen Geständnissen durch die Aktivisten selbst. Die Taktik ist effektiv, weil sie Misstrauen sät und einen Keil zwischen die Oppositionsführer treibt."
Ob dies aufgeht, hängt von den Belarusen selbst ab. Prominente Oppositionsvertreter betonen in der Öffentlichkeit, sich Erpressungsversuchen widersetzt zu haben. Andererseits hat bislang niemand unter ihnen den Sicherheitskräften Amnestie angeboten, um sie zum "Überlaufen" zu bewegen. Dass OMON und Innere Armee sich von selbst gegen Lukaschenkos System stellen, hält Kasakewitsch derzeit für unwahrscheinlich - wenn nicht weitere Befehle zur Rigorosität sie irgendwann zu einer Entscheidung zwingen.