Augenzeugin in Minsk "Die Situation ist einmalig für Belarus"
Die belarussische Journalistin Reznikava lebt und arbeitet in Minsk. Für tagesschau.de beschreibt sie das rigorose Vorgehen der Sicherheitskräfte - und welchen Risiken sie und ihre Kollegen ausgesetzt sind.
"Erst seit gestern habe ich in Minsk wieder Zugang zum Internet. Davor waren wir drei Tage lang offline - auch alle Büros, alle Geschäfte. Dass das mobile Internet auf Handys zeitweise nicht mehr funktioniert, dass wir ohne VPN-Client nicht auskommen, kannten wir in Belarus schon - aber dieses Ausmaß ist neu. Nur wenige, die einen privaten Proxyserver haben, konnten in sehr niedriger Geschwindigkeit Nachrichten über den Telegram-Messenger empfangen. Dadurch wissen viele Belarussen nicht genau, was in ihrem eigenen Land passiert - denn in den staatlichen Medien werden die Proteste nicht gezeigt.
Nasta Reznikava ist eine belarussische Journalistin. Sie lebt und arbeitet in Minsk beim Sender Belsat.
Ich bin heute mit meinen Kollegen auf Dreh durch Minsk gefahren und habe Demonstranten interviewt. Dabei begegnen mir jetzt vor allem jüngere Leute. Die Leute gehen an vielen verschiedenen Orten in der Stadt in kleineren Gruppen von bis zu Hundert Menschen auf die Straße, aber gemeinsam organisierte Großproteste gibt es nicht. Viele Polizisten, Truppen des Innenministeriums und KGB-Geheimdienstagenten sind unterwegs, auch wenn sie sich versteckt halten. Sie dürfen jederzeit Fahrzeuge staatlicher Einrichtungen nehmen - so kommt es, dass auch schon Kräfte in Flecktarn am Steuer von Sanitätswagen saßen, wie es Bilder in sozialen Netzwerken zeigen.
Vorwürfe gegen Festgenommene: "Hooliganismus"
Offiziell sind zwei Menschen bei den Protesten gestorben, in den vergangenen vier Tagen 6000 Menschen im ganzen Land festgenommen worden - Bürgerrechtsaktivisten zufolge sind es aber viel mehr. Auch Dutzende meiner Kollegen sind festgenommen worden, von anderen haben wir seit zwei Tagen keine Nachricht mehr. In Polizeigewahrsam haben sie keinen Zugang zu einem Anwalt und können keine Anrufe tätigen - ich weiß von vielen Kollegen, die deshalb vorab Verträge mit Anwälten geschlossen haben, bevor sie zur Recherche hinausfuhren. Nun bemühen sich diese Anwälte, ihre Klienten aufzuspüren.
Auch ich selbst habe schon drei Stunden auf einer Polizeiwache verbracht. Werden die Festgenommenen angeklagt, wird ihnen meist Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Teilnahme an nicht genehmigten Massenaktionen oder Störung der öffentlichen Ordnung ("Hooliganismus") vorgeworfen.
"Beendet die Gewalt!" steht auf einem Transparent, dass Mitarbeiterinnen einer Klinik in Minsk hochhalten.
"Wir können jetzt nur eines: Unsere Arbeit machen"
Die Sicherheitskräfte der Nationalgarde (OMON) gehen rigoros und oft brutal vor - gegen Demonstranten genauso wie gegen Journalisten. Viele ausländische Korrespondenten können ohnehin nicht vor Ort berichten, weil ihnen die Akkreditierung verweigert wurde. Ich habe mitbekommen, wie ein OMON-Gardist einem dänischen Reporter die Speicherkarte mit den Aufnahmen des ganzen Tages abnahm. Als er diesem seine Akkreditierung zeigte und die Karte wiederhaben wollte, wurde er geschlagen.
In den Polikliniken treffen mehr und mehr Verletzte ein. Deshalb sind gestern besonders viele Ärztinnen und Krankenpflegerinnen auf die Straße gegangen. Sie fordern, die Gewalt gegen Demonstranten zu beenden. Die ganze momentane Situation ist einmalig für Belarus - dass so viele sich trauen, ihre Kritik am System offen zu zeigen, das hat es vorher noch nicht gegeben. Ich mache mir Sorgen um meine Kollegen, aber wir Journalisten können jetzt nur eines: unsere Arbeit machen."
Protokoll aufgezeichnet von Jasper Steinlein, tagesschau.de.