Fall der IS-Bastion Baghus "Ein Sieg mit bitterem Beigeschmack"
Mit dem Fall der letzten Bastion Baghus sei die Terrormiliz "Islamischer Staat" nicht besiegt, warnt der Nahostexperte H. A. Hellyer. Der Mythos der staatlichen Einheit werde für Anhänger weiterleben.
tagesschau.de: Wofür steht der Sieg über die Terrormiliz "Islamischer Staat" in Baghus?
H. A. Hellyer: Es ist ein Sieg mit bitterem Beigeschmack. Der "Islamische Staat" entstand als territoriale Einheit im Jahr 2013. Fast sechs Jahre später hat die internationale Gemeinschaft zwar diesen Flächenstaat in Syrien und im Irak vernichtet, die Organisation verschwindet damit aber noch lange nicht.
Niemand kann behaupten, der IS sei besiegt. Er hat einen massiven Rückschlag erlitten. Aber ich fürchte, der Kampf gegen die Terrormiliz ist längst noch nicht beendet.
tagesschau.de: Was bleibt denn noch vom "Islamischen Staat"?
H. A. Hellyer: Es gibt noch immer sehr viele Unterstützer und Mitglieder der Gruppe, die an ihre Mission glauben. Der IS wird ebenso wenig wie Al Kaida verschwinden.
Was den IS-Anhängern bleibt, ist die sehr frische Erinnerung an ihre staatliche Einheit, die sie geschaffen haben. Sie hatten eine Verwaltung, Bürokratie, Mitglieder aus der ganzen Welt. Sie haben ihre Utopie gelebt. Es war ein Ort, zu dem man reisen konnte, nicht nur als Kämpfer, sondern auch als Arzt, Krankenschwester, Lehrer. Dieser Mythos wird noch eine ganze Zeit weiter existieren.
Männer verlassen das zuletzt von der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) kontrollierte Gebiet in Baghus.
tagesschau.de: Wie gefährlich bleibt die Miliz?
H. A. Hellyer: Sie wird vor allem für die Menschen im Irak, in Syrien, der arabischen Welt eine Gefahr bleiben. Das war auch früher schon so. Bei aller Sorge im Westen vor dem "Islamischen Staat" über die vergangenen Jahre waren die Opfer doch in erster Linie arabische Gruppen unterschiedlichen Ursprungs und unterschiedlicher Konfessionen. Sie hatten und haben am meisten zu befürchten und beklagen die meisten Opfer, selbst wenn der IS den Westen immer als primären Feind gesehen hat.
Es gibt zudem noch immer Gruppen im Irak - vereinzelt auch in Libyen, in Ägypten und anderen nordafrikanischen Ländern -, die dem IS die Treue geschworen haben und die ihre Angriffe unabhängig davon fortführen werden, ob der IS als Staat existiert oder nicht.
tagesschau.de: Was bedeutet der Sieg für die Kurden im Norden und Osten Syriens?
H. A. Hellyer: Der Westen hat die Kurden vor allem unterstützt, weil sie im Kampf gegen den IS so erfolgreich waren. Nachdem dieser Kampf nun erst einmal vorbei ist, befinden sich die Kurden in einer delikaten Lage. Ihre Feinde sind nun nicht mehr radikalislamische Extremisten wie der IS.
Die Bedrohung kommt jetzt vielmehr aus Ankara. Die Türkei möchte nicht, dass die Kurden in dieser Region ein eigenes Gebiet kontrollieren. Deshalb betrachten sich die Kurden selbst jetzt auch nicht wirklich als Sieger. Ohne die Mächte, die sie in den vergangenen Jahren unterstützt haben, wird es für sie sehr schwierig.
tagesschau.de: Was kann die Welt aus dem Kampf gegen den IS lernen?
H. A. Hellyer: Wir haben lange nicht sehen wollen, woher diese Bewegung kommt. Der IS ist ohne Syriens Machthaber Baschar Al Assad undenkbar. Die internationale Gemeinschaft muss begreifen, dass jahrelange Unterdrückung eines Volkes in dieser Größenordnung solche Folgen haben kann. Das kann keine Rechtfertigung dafür sein, aber diese Folgen sind vorhersehbar und wir müssen die Ursachen davon besser bekämpfen.
Das Interview führte Daniel Hechler, ARD-Studio Kairo