Türkisches Desinformationsgesetz "Die Regierung will uns Ketten anlegen"
Seit Jahren schränkt die Türkei immer weiter die Medienfreiheit ein. Nach TV und Zeitungen soll ein neues Gesetz jetzt die sozialen Medien kontrollieren. Offiziell geht es nur um Desinformation.
Burak Erbay von der oppositionellen CHP schlägt im Parlament mit einem Hammer auf ein Handy. Dabei wendet er sich vor allem an junge Menschen, die sich überwiegend aus dem Internet informieren. Mit dem neuen Gesetz über Falschinformationen seien ihre Handys, über die sie soziale Medien nutzen, ebenso wertlos wie nun seines.
Das befürchten einige. In einer Umfrage der linksgerichteten Zeitung "Sözcü" sagt ein Mann, im Grunde werde den Menschen der Mund verboten: "Ich bin besorgt. Denn können Sie mir garantieren, dass mir nichts passiert, wenn Sie das veröffentlichen? Können sie nicht. Das ist ein einfaches Beispiel."
Bis zu drei Jahre Haft - mehr bei Hashtag
Als besonders kritisch sehen Gegner des neuen Gesetzes Artikel 29 an. Er richtet sich gegen falsche Informationen, die geeignet seien, den "inneren Frieden der Türkei" zu stören. Konkret genannt werden Falschinformationen über die Sicherheit des Landes, seine öffentliche Ordnung oder die allgemeine Gesundheit.
Das öffnet der Justiz alle Türen, gegen Nutzer sozialer Medien vorzugehen, sagt Yusuf Kanli vom türkischen Journalistenverband: "Wenn man etwas retweetet oder auf Facebook oder Instagram teilt und das von der Regierung als Straftat eingestuft wird, kann man sich in einem Land, in dem die Justiz so problematisch ist, plötzlich ohne jeden Grund und ohne jede Begründung vor der Justiz wiederfinden und sogar verurteilt werden." Verurteilt zu bis zu drei Jahren Gefängnis. Und wenn man einen Hashtag vor ein Stichwort setze, so Kanli, könne man das dann "organisiert" nennen und es drohten noch höhere Strafen.
"Arbeit von Journalisten erschwert"
Türkeikenner Christian Mihr von Reporter ohne Grenzen meint, die Arbeit von Journalisten werde erschwert: "Für türkische Journalisten wird es die Unsicherheit erst einmal vergrößern und mutmaßlich auch die Selbstzensur einmal mehr erhöhen." Aber auch ausländische Journalistinnen und Journalisten würden verunsichert. All das sei Ziel des Gesetzes, glaubt Mihr.
Kritik kommt auch von Fachleuten in der Türkei. Der Juraprofessor und Social-Media-Experte Yaman Akdeniz sagt, das Gesetz lasse einen großen Interpretationsspielraum - etwa zu bestimmen, wann eigentlich der innere Friede durch einen Post im Internet gefährdet werde.
Letztlich gehe es der Regierung um Kontrolle, urteilt die Vorsitzende der rechtsgerichteten Oppositionspartei IYI, Meral Aksener: "Die Regierung lenkt wie immer ab. Sie will uns neue Ketten anlegen. Desinformation ist ein Vorwand - was für sie zählt ist Despotismus. Als ob es nicht schon reichte, dass sie sich in unsere Kleidung, unseren Glauben und unser Lieblingsessen einmischen. Sie wollen uns auch daran hindern, die Wahrheit zu erfahren. Denn es ist die Wahrheit, vor der sie sich am meisten fürchten."
"Legalisierung bestehender Praxis"
Dabei versuche die Regierung schon lange, die öffentliche Meinung zu kontrollieren, findet Oliver Kyrle vom Internationalen Presseinstitut IPI. Doch nun schaffe sich die Regierung ein eigenes gesetzliches Instrument dafür: "Wir haben gesehen, wie Journalisten seit dem Putschversuch kriminalisiert wurden, Hunderte angeklagt wurden und einige ins Gefängnis mussten. Das ist nicht neu. Aber dieses Gesetz legalisiert das, was schon gemacht wird."
Der unabhängige Kolumnist Murat Yetkin spricht von einer neuen Dimension eines seit rund zehn Jahren andauernden Drucks auf Medien. Seitdem seien immer mehr Medienunternehmen an regierungsnahe Eigner gegangen. Und der Druck wachse: "Es gibt zwar noch die organisierte oppositionelle Presse, aber eben auch unabhängige Journalisten wie mich, die das, was sie für wahr halten, ausschließlich über soziale Medien verbreiten. Das neue Gesetz wird selbstverständlich auch unsere Handlungsfähigkeit stark beeinflussen."